: Die Frau für die Schulden
1970 träumte Antje Liemen von Kairo und einer Journalistenkarriere. Heute will sie nach Kuba und arbeitet als ABMlerin in Bad Salzungen
Kairo! Ägypten! Diese Stadt, dieses Land haben mich irgendwie fasziniert. Die Pyramiden! Die Antike! Egal wie, ich würde nach Kairo kommen. Davon war ich damals fest überzeugt.
Ich hatte ja die Idee: Eines Tages wird die Welt ohne Grenzen auskommen, die Menschen werden gelernt haben, miteinander zu reden anstatt aufeinander zu schießen.
Anfang der Siebzigerjahre, in Vietnam war gerade Krieg. Ich habe richtig mitgefiebert mit dem Volk. In Meiningen waren junge Vietnamesen zur Ausbildung. Wir von der Penne hatten einen Patenschaftsvertrag mit ihnen. Da habe ich Thang und seine Freunde kennen gelernt. Als er zurück in sein Land ging, hat er ein altes Fahrrad von mir mitgenommen und eine Nähmaschine. Die hatte zwar kein Schiffchen mehr, aber ich dachte: Die werden das schon irgendwie hinkriegen. Von Thang habe ich dann nichts mehr gehört.
Ich war im Zirkel „Schreibende Arbeiter“. Gesponnen habe ich schon immer gerne. Utopische Romane gelesen, mir das Leben auf einem anderen Planeten vorgestellt. Als kurze Zeit zuvor Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, durch Meiningen gefahren ist, habe ich an der Straße gestanden und gewunken.
Meiningen war eine Kasernenstadt mit vielen Soldaten. Es gab eine Disko, da sind die immer hingegangen. Aber es galt: Anständige Mädchen gehen da nicht hin. Ich war ein anständiges Mädchen. Als auf einmal die Jungs mit langen Haaren und in Jeans zur Schule kamen, hieß es: Das gehört verboten. Ich habe es geschluckt. Mein Vater ist ja schon wild geworden, wenn er die Puhdys im Fernsehen sah.
Mein Vater war Journalist bei einer Betriebszeitung, meine Mutter Sekretärin und Hausfrau. Die waren politisch engagiert, das hat natürlich abgefärbt. Es war Konsens, dass Sozialismus für Frieden steht, dass jeder eine bezahlbare Wohnung haben soll, dass genügend Brot für alle da ist – wenn nötig, muss das alles auch mit der Waffe geschützt werden.
Meine Großmutter, Jahrgang 1899, hat immer gesagt: „Lieber ein Leben lang trocken Brot essen, aber nie wieder Krieg“. Auf den Spielplatz im Wohngebiet kam immer ein alter Kommunist, der im KZ war, zu uns. Er kümmerte sich um uns Kinder, während die Eltern zum Einsatz vom Nationalen Aufbauwerk waren.
Diesen Mann habe ich nie vergessen.
Leipzig! Das war die schönste Zeit meines Lebens. Erstmals frei sein, erstmals von zu Hause weg, Theater, Kino, Kabarett. Ich habe am Roten Kloster Journalistik studiert. Als ich Mitte der Achtzigerjahre wieder einmal hingefahren bin, habe ich die Ruinen gesehen, die verfallene Innenstadt. Ich habe gedacht: Was ist nur aus meinem Leipzig geworden!
Ich wollte immer in der Außenpolitik arbeiten. Doch der Chefredakteur einer Bezirkszeitung, bei der ich volontiert habe, hat gesagt: „Eine Frau kommt nicht in die Außenpolitik.“ Ich war schockiert.
1973 kam ich zur Betriebszeitung eines Kali-Betriebes, zum Kali-Kumpel. Eine junge Frau in einem Bergbau-Betrieb! Als ich das erste Mal eingefahren bin hieß es nur: ein BoS, ein Bergmann ohne Sack. An den rauhen Ton dort musste ich mich erst gewöhnen.
Auf der letzten Seite vom Kali-Kumpel gab es immer ein nacktes Mädchen. Wenn die Zeitung freitags herausrauskam, war die letzte Seite die erste, die die Bergmänner angeschaut haben. Später habe ich dann dafür gesorgt, dass ich diese Bilder aussuchen durfte. Sie sollten wenigstens ästhetisch sein.
1976 habe ich den Sohn des Parteisekretärs geheiratet. Es gab Leute, die deswegen meine Freundschaft gesucht haben. Sie dachten, sie kommen dadurch besser an meinen Schwiegervater heran, der auch im Zentralkomitee der SED saß. Von meinen Kollegen bekam ich einmal zum Geburtstag das Buch „Ehe aus Berechnung“ geschenkt.
Mitte der Achtzigerjahre wurden die Probleme im Betrieb immer sichtbarer. Vor allem die Ersatzteilfrage wurde immer prekärer. Immer öfter waren Waggons, mit denen das Salz transportiert werden sollte, kaputt. Ich habe mich gefragt: Wie lange geht das noch gut! Hätte mein Schwiegervater nicht im ZK gesessen, wäre so manches Mal kein Waggon mehr gerollt. Aber was, habe ich gedacht, machen die Betriebe, die nicht solche Connections haben?
Privilegien? Für eine Angestellte habe ich gut verdient, für uns Betriebszeitungsredakteure gab es ja auch noch ein bisschen Bergmannsgeld. Und sicher, wenn meine Schwiegermutter in den Laden kam, hat sie immer eine Tüte Apfelsinen und Bananen bekommen – auch wir haben dann immer etwas davon abgekriegt.
1989 ist eine Welt für mich zusammengebrochen, alles, wofür ich gelebt und gearbeitet habe.
Ich wurde arbeitslos und habe mich als freie Journalistin versucht. Aber in 15 Jahren Betriebszeitung hatte ich kreatives Schreiben verlernt. Und bei den Westzeitungen hieß es nach kurzer Zeit immer: Wegen der Vergangenheit könne ich nicht bleiben. Immer wusste irgendjemand irgendetwas über mich.
Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, wo ich das Essen für meine Kinder hernehmen sollte. Ich stand vor der Frage: Soll ich nun Brot kaufen oder besser Waschmittel? Ich wusste nicht: Soll ich nun morgens aufstehen, oder soll ich liegenbleiben. Und es gab Leute, die wechselten plötzlich die Straßenseite. Hätte ich keine Kinder gehabt, ich wäre weggegangen, nach Kanada, frühstücken mit den Grizzlys.
Plötzlich kamen die Kinder nach Hause und fragten: Warum? Warum hat der Opa nicht ...? Der saß doch ganz oben, der hätte doch ... Damals hatte ich Angst, dass mir mein Sohn, der in der Pubertät war, abrutscht.
Später hatte ich ein fahrendes Fotostudio. Ich habe Kindergartenkinder fotografiert. Das hat mir Spaß gemacht. Als die Firma mich nicht mehr bezahlt hat, habe ich aufgehört.
Noch bis zum 31. März habe ich hier in Salzungen in einem Frauen- und Familienzentrum eine über das Arbeitsamt geförderte Stelle. Ich berate jetzt Frauen und Familien, zum Beispiel wenn sie sich verschuldet haben.
Was dann wird? Ich weiß es nicht.
Ich habe nicht aufgehört zu träumen. Ohne Träume kann doch der Mensch nicht leben. Einmal möchte ich noch nach Kuba fahren, den Fidel sehen. In zwei Jahren haben wir Silberne Hochzeit. Mal sehen, vielleicht dann.
Nein, diese Gesellschaft ist nicht meine. Nur wer Geld hat, ist was, wer keins hat, wird an den Rand gedrängt.
Ich habe gedacht, dass aus beiden Teilen Deutschlands ein gutes Deutschland wird, dass Politik für alle gemacht wird, dass Soldaten nie wieder in den Krieg ziehen müssen. Stattdessen kam der Kosovokrieg. Alexander, habe ich zu meinem Sohn gesagt, ich möchte nie dein Grab in der Welt suchen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen