Tödliche Fehler bei Entwicklung und Überwachung

Abschließendes Gutachten zu Eschede-Unglück: Bei den ICE-Radreifen waren die Qualitätsstandards der Bahn zu niedrig angesetzt. Bruch hätte vermieden werden können

Hannover (taz) – Schwere Fehler bei der Einführung gummigefederter ICE-Räder im Jahre 1992 haben sechs Jahre später zum Unglück vom Eschede geführt, das 101 Menschen das Leben kostete. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit in Darmstadt, das die Staatsanwaltschaft Lüneburg im Zuge der Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung in Auftrag gegeben hatte.

Ursache der ICE-Katastrophe war nach dem 302 Seiten starken Gutachten ein Ermüdungsbruch eines Radreifens, der über einer Gummifederung auf dem in Eschede zuerst entgleisten ICE-Rad saß. Zu dem Bruch konnte es überhaupt nur kommen, weil schon bei der Einführung der ICE-Räder ein zu starkes Abfahren der Radreifen erlaubt worden war und weil es seinerzeit keine Berechnungen zur Ermüdungsfestigkeit der Radreifen und ausreichende Labor- oder Fahrversuche gegeben habe.

Die Staatsanwaltschaft Lüneburg versucht jetzt, die Entscheidungsabläufe bei der Einführung und Zulassung der gummigefederten Radreifen nachzuvollziehen, um danach Ermittlungsverfahren gegen konkret Verantwortliche einzuleiten. Dies erweise sich allerdings als schwierig, weil „eine Vielzahl von Personen an der Entwicklung und Erprobung des Rades und an der fahrtechnischen Zulassung bis hin zur Einsatzentscheidung mitgewirkt haben“, sagte gestern der Sprecher der Anklagebehörde, Jürgen Wigger. Bislang werden die Ermittlungen auf allen Ebenen bis hin zum damaligen Vorstand der Bahn geführt.

Nach den Berechnungen des Fraunhofer-Instituts waren die gummigefederten Räder nur bis zu einem Durchmesser von etwa 880 Millimetern noch betriebssicher. Bei der Zulassung der Räder hatte die Bahn jedoch ein Betriebsgrenzmaß von 854 Millimetern festgelegt, bis zu dem die ursprünglich 920 Millimeter messenden Räder heruntergefahren werden durften. Der Unglücksreifen hatte noch einen Durchmesser von 862 Millimetern, war also nach Auffassung der Gutachter längst nicht mehr betriebssicher. Schon das Abfahren bis auf 880 Millimeter hält das Gutachten nur dann für zulässig, wenn es mindestens eine jährliche Kontrolle auf Innen- und Mittenrisse gibt. Die hatte jedoch nicht stattgefunden. Damit dürfte bei der Einführung der Räder in fahrlässiger Weise und schuldhaft gegen anerkannte Regeln verstoßen worden sein.

Die Gutachter kritisierten weiter, dass vor der Zulassung für die Radreifen „kein Betriebsfestigkeitsnachweis unter Berücksichtigung der ständig abnehmenden Stärke“ erbracht wurde. Nach dem Stand der Technik sei es möglich, die Ermüdungsfestigkeit rechnerisch abzuschätzen.

Die Deutsche Bahn AG wies gestern noch einmal darauf hin, dass die gummigefederten Räder bereits kurz nach dem Unfall aus dem Verkehr gezogen wurden. Anders als die Staatsanwaltschaft, die die Katastrophe durch das Gutachten für weitgehend aufgeklärt ansieht, bezeichnete die Bahn „das Ergebnis des Fraunhofer-Instituts als die Äußerung einer gutachterlichen Meinung“, die keinesfalls als gesicherte Erkenntnis betrachtet werden dürfe. Jürgen Voges