Flammen, lichterloh

Künstler sind ihre schärfsten Kritiker. Wozu braucht man also noch Rezensenten? Wir schaffen sie ab. Über ein Mark-Scheibe-Konzert schreibt  ■ Mark Scheibe

Liebe Leserin, lieber Leser. In Zeiten zunehmender Individualisierung und vor dem Hintergrund des ständig wachsenden ekklektischen Ausmaßes der Künste ist „Kritik“, wie wir sie wünschen, profunder Kenntnis und emotionalen Verständnisses entspringend, ganz im Sinne einer objektiven, doch auch hermeneutisch einfühlsamen Berichterstattung, nicht mehr möglich. Der Beruf des Rezensenten erfordert eine menschenunmögliche, beinahe göttlich zu nennende Kompetenz in allen Sparten. Was liegt also näher, als dass der Künstler selbst, der ja sein eigener schärfster Kritiker ist, mit dieser Aufgabe betraut wird?

Lassen Sie mich meine Wahrnehmung von meinem vorgestrigen Konzert mit meinem Ensemble „Die Feinen Herren“ im Jungen Theater schildern; hinter dem Titel „Musik, Religion, Entertainment“ versteckt sich ein hochemotionales Unterhaltungsprogramm von allumfassender philosophischer Tiefe; alles Menschliche kommt in circa zweieinhalb Stunden zu Gehör. Gestatten Sie mir aus Gründen, die mit den Werten Objektivität und Distanz zu tun haben, von mir selbst in dritter Person zu sprechen.

Im ausverkauften Jungen Theater fand das euphorisch gestimmte und in sinnesfreudiger Erwartung fiebernde Publikum bei schwülem Licht zunächst ein riesiges rotes seidenes Tuch vor, das die Bühne bedeckte. Da! Plötzlich erscheinen im Lichterkegel Die Feinen Herren. Mit Schwermut berichtet der charmante Moderator Herr Scheibe von einem Missgeschick, das sich an der holländischen Grenze ereignete, demzufolge der betriebseigene Tontechniker mitsamt allen Instrumenten mit der Gesetzgebung kollidierte und dort festgehalten wurde. Infolgedessen kündigt man an, das gesamte Programm pantomimisch und im Vollplaybackverfahren vorzustellen. Wut und Bitternis macht sich in den Gesichtern der Besucher breit. „Geld-zurück“-Rufe werden lauter. Als die Stimmung ins Bedrohliche kippt, geht der Vorhang auf, und alles entpuppt sich als trefflicher Scherz.

Gülden glänzen die Instrumente, in stoischer Heroik der Künstler harrend. Das Schiff legt ab; mit der 14minütigen Ouvertüre, in der die drei Musiker insgesamt zwölf (!) Instrumente spielen und singen, wird der Hörer in eine fremde Welt aus diabolischem Spieltrieb und bizarrer Phantasie am Rande der gesellschaftlichen Akzeptanz entführt. Lustvoll wird im Werk „Sinnliche Frauen sind selten“ ein Leben ausgelöscht, um der Kunst Platz zu machen, die sich in Herrn Klüvers durchaus sinnlichem Beitrag, am Schlagzeug spielend und zugleich in feinstem afroamerikanisch gefärbten Timbre vom provokativen und bestrafungswürdigen Charakter eines Designerteesiebs singend, prompt in den Raum ergießt. Schlager, Revuemusik, Polka und ein Weihnachtslied sind die Zutaten für eine zeitgemäße geheimnisvolle Melange. Das Programm erweist sich nach kurzer Zeit als unberechenbar, der emotionale Reichtum ist üppig, also entstehen Brüche; tritt das Wasser über die Ufer, sorgt plötzlich ein Flächenbrand für Abwechslung, Spiel der Elemente! Herr Fritsch gibt den abgründigen Sonderling und fährt gut damit. Er beleidigt die geschätzte Hörerschaft als Menschen von geringem Wert und wird von Herrn Scheibe gerade noch rechtzeitig davon abgehalten, die erste Reihe in Brennspiritus zu tränken und anzuzünden. Die Gitarre darf er allerdings verbrennen, er braucht das.

Lichterloh steht die halbe Bühne in Flammen. „Das ist aber gefährlich“, ruft ein ängstlicher Gast erregt. Ja, das ist es, bei den Feinen Herren wird nicht gespaßt, und die Menschen sollen nicht nur lachen, sondern auch nachdenken! Triviale Unterhaltung (Schwulenwitze) vereinigen sich mit philosophischer Tiefe (Aphorismen zur Lebensweisheit). Die Texte sind herzlich und verzaubern das Gemüt. Die Spielfreude der Gruppe ist unerhört, das Tempo des Abends dramatisch hoch.

Ein festliches Ende. Nebel. Musik wie aus dem Weltraum. Eine Violine. Stöhnen, Schreie, Falsettgesang. Begeisterung, Jubel. Höschen und Geldscheine fliegen durch die Luft. Das Schiff kommt zurück in den Hafen. Tränen und Glück. Dann wieder: Einsamkeit und Trauer. Aber wir sind ja da. Heute Abend geht es weiter.

Die Feinen Herren bis Sonntag im Jungen Theater, jeweils um 20 Uhr