: Der Ministerpräsident spielt Lehrer
Schwedens Regierung will ihre Jugend mit einem drastischen „Holocaust-Buch“ und dem Konzept „Lebende Geschichte“ gegen den nazistischen Virus immunisieren. Historiker kritisieren die Kampagne als von oben gelenkte Geschichtspolitik ■ Von Reinhard Wolff
Stockholm (taz) – Es gibt kein Patentrezept gegen Rassismus und Neonazismus. Doch die Macht des Wortes, der Information und Aufklärung ist das, was man am ehesten versuchen sollte.
In diesem Satz, sollte es denn nur einer sein, ließen sich die Konzepte zusammenfassen, welche die Stockholmer Holocaust-Konferenz vergangene Woche verabschiedete. Darunter als Punkt vier der Stockholmer Erklärung das Bekenntnis, Bildung über den und Erforschung des Holocaust zu stärken und gemeinsam zu koordinieren. Ein Lob an das Gastgeberland Schweden, damit also auf dem richtigen Weg zu sein, da man genau dies seit einigen Jahren versucht? Und ein Vorbild für andere Länder?
Schleswig-Holsteins Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave hat sich jedenfalls dazu entschlossen, den am weitesten verbreiteten Teil des schwedischen Konzepts auch an den Schulen ihres Landes zu verteilen. Am Donnerstag letzter Woche, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, erhielten die SchülerInnen der neunten Klassen eine ins Deutsche übersetzte und überarbeitete Fassung des schwedischen Buches „Hierüber müssen wir berichten – Ein Buch über den Holocaust in Europa 1933–1945“. 1998 in Schweden erschienen, wurde die Aufklärungslektüre dort innerhalb weniger Monate zum Bestseller. Das Buch war gratis zu haben, aber die Interessierten mussten sich die Mühe geben, es zu bestellen: Eine erstaunlich hohe Anzahl von 60 Prozent der angeschriebenen Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter orderte.
Das Buch sollte eine Lücke decken, welche die PolitikerInnen plötzlich entdeckt zu haben glaubten. Eine Umfrage – die man falsch interpretiert hatte, so schlimm waren die Wissenslücken gar nicht – hatte eine frapierende Unkenntnis schwedischer SchülerInnen über den Holocaust signalisiert. Das fiel zusammen mit einer Welle rechtsradikaler Aktivitäten und einer Debatte über die Rolle Schwedens im Zweiten Weltkrieg.
Das Buch beginnt mit einer Darstellung des antisemitischen Klimas im Europa der Dreißigerjahre und endet nach 80 Seiten mit Bildern der Leichenhaufen in deutschen KZ’s. Berichte über die Schicksale Einzelner stehen im Mittelpunkt. Dazwischen Grundfakten zum Aufstieg Hitlers und seiner Partei und zur Politik des Nationalsozialismus.
Die Illustrationen sind oft von schonungsloser Brutalität. Neben weiteren gedruckten Materialien bietet das Regierungsprojekt „Lebende Geschichte“ den Schulen noch eine Sammlung mit sieben Videofilmen an. Von Dokumentarfilmen bis zu Alain Resnais klassischem „Nacht und Nebel“.
Dem Interesse einer breiten Öffentlichkeit am „Holocaust-Buch“ steht eine deutliche Skepsis der GeschichtspädagogInnen selbst gegenüber. Die Publikation wurde auf Initiative des schwedischen Regierungschefs Göran Persson innerhalb weniger Monate von den Historikern Stéphane Bruchfeld und Paul A. Levine verfasst. Der Vorwurf lautet nun: Der Geschichtsunterricht der Schulen sei durch eine „Kampagne in Regierungsregie“ ersetzt worden.
Der Holocaust-Unterricht soll nach den Intentionen der Regierung „Ausgangspunkt für Diskussionen um Moral, Demokratie, Ethik und menschliche Werte“ sein. Professor Klas-Göran Karlsson, Historiker an der Universität Lund: „Der dahinter stehende Geschichtsbegriff ist nicht wissenschaftlich, sondern politisch. Will sagen, gegründet auf metaphorische oder symbolische, wissenschaftlich unklare, aber pädagogisch oder rhetorisch überzeugende Zusammenhänge und Vergleiche zwischen einem historischen Zeitabschnitt und der Gegenwart.“
Dem Versuch, mit der Darstellung des Holocaust bestimmte Gefühle zu wecken und bestimmte Wertungen zu verankern, wird so zum einen der Vorwurf gemacht, aus politischen Gründen zu verschleiern und abzulenken.
Das Holocaust-Material behandelt die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland, nicht aber die Rolle Schwedens oder anderer Länder: Sollte hier abgelenkt werden – etwa von Zwangssterilisierungen, von Geschäften mit Raubgold oder von den Grenzen, die jüdischen Flüchtlingen verschlossen blieben?
Schwerer aber noch wiegt der Vorwurf, nicht nur relativ wirkungslos zu sein, sondern auch die Tür für weitere Bildungskampagnen solcher Art zu öffnen. „Vielleicht gibt es ja einen intellektuellen und moralischen Eigenwert, diese Fakten zu vermitteln“, meint Historiker Karlsson, „doch die instrumentelle Vorgehensweise lässt sofort die Frage auftauchen: Was wählt sich die Politik zur nächsten Geschichtskampagne aus?“
Kann man Demokratie und Toleranz aus Aufklärungskampagnen lernen? Welche Signale setzen PolitikerInnen wirklich, wenn mittlerweile die Hälfte aller SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe überhaupt keinen Geschichtsunterricht mehr haben? Untergräbt nicht die Festschreibung einer offiziellen Holocaust-Geschichte ohne einheimische Bezüge die Ziele, die man eigentlich erreichen will – Motto: Was geht uns das eigentlich noch an? Fragen, die auch nach der Holocaust-Konferenz in Schweden auf eine Antwort warten.
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