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Wenn aus Iphigenio Iphigenie wird

Das einzigartige Wohnprojekt für homo- und bisexuelle Jugendliche „gleich & gleich“ will mit dem Theaterstück„Iphigenio –Königskind“ antike Mythen ins zweite Jahrtausend holen und beim Outing helfen ■ Von Katrin Cholotta

Ihre Gesichter sind kreidebleich. Zuckendes rotes Licht wird matt auf die weiß gekleideten Körper reflektiert, die sich im Tekknogewummer verlieren. Der Saal im zweiten Stock des Jugendzentrums „Die Wille“ in Kreuzberg ist für ein paar Tage Griechenland. Vier Jungs und zwei Betreuer des schwullesbischen Wohnprojekts „gleich & gleich“ agieren dort als Schauspieler.

Ihr Stück „Iphigenio – Königskind“ soll antike Mythen und Rituale in das zweite Jahrtausend holen, erklärt der kolumbianische Regisseur Jaime Mican, „in dem es keine Vorbilder mehr gibt“. Und oft auch gar keinen Halt.

Die Bühne ist fast leer; in der Mitte steht lediglich ein großer Stuhl auf einem Podest. „Ich bin Iphigenio, und mein Papa hat mich lieb.“ Der 17-jährige Maik bringt den Originaltext ohne Versprecher über die Lippen. Nur: Seinen leiblichen Vater hat er nie kennen gelernt. Seit über einem Jahr wohnt er in der fünfköpfigen schwulen Wohngemeinschaft. „Das ist wie eine zweite Familie“, sagt Maik mit glänzenden Augen. „da gibt es Geborgenheit, die ich von zu Hause nicht kenne.“

Ein richtiges Zuhause hatte er nie. Seiner Mutter wurde das Sorgerecht genommen, weil „sie eine Säuferin ist“, erzählt er mit bemühter Gleichgültigkeit. Danach zog er für drei Jahre zu seiner Oma. Dort gab es aber auch nur „Stress“. Das Jugendamt schritt erneut ein und verwies den 17-Jährigen an den Jugendnotdienst. Von da aus kam er zu „gleich & gleich“, dem bundesweit ersten und bislang auch einzigen betreuten Wohnprojekt, das sich ausschließlich an homo- und bisexuelle Jugendliche richtet. Außer der reinen Jungen-WG in Friedrichshain, in der Maik wohnt, werden zur Zeit auch sechs lesbische Mädchen in Kreuzberg betreut.

„Ich wollte unbedingt in eine schwule WG“, so Maik, „da ich schon in der Schule ständig blöd angemacht worden bin.“ Seine Noten wurden immer schlechter, er ließ sich oft krank schreiben und ging irgendwann überhaupt nicht mehr zum Unterricht. „Meine Mutter hat das sowieso nicht gekümmert“, erwähnt er fast beiläufig, „sie ist mir auch egal.“ Leer schauen seine Augen und versuchen dabei zu überzeugen. Sporadischen Kontakt hält er aber trotzdem zur ihr.

Er hofft, dass seine Mutter zur heutigen Aufführung des Theaterstücks kommen wird. Mit seiner Hauptrolle des Iphigenio, der entdeckt, dass „Männer, so viele Männer“ erotische Anziehung auf ihn ausüben, möchte Maik sein Schwulsein bei der Mutter outen: „Ich hoffe, das sie mich versteht, wenn sie mich hier sieht.“

Iphigenio soll, laut griechischer Sage, geopfert werden, um günstige Winde für die Kriegsschiffe gegen Troja entstehen zu lassen. In der modernen Fassung von Regisseur Mican geht es jedoch um Vater und Sohn. Um Agamemnon, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern, und um Iphigenio, der ständig verzweifelt um die Aufmerksamkeit seines Vaters ringt: „Papa, freust du dich, mich zu sehen?“

Als in einem Theaterworkshop im vergangenen Sommer die Idee zur Umsetzung des Stücks spontan entstand, dachte noch keiner an einen explizit schwulen Bezug. Jedoch lässt die durchweg männliche Besetzung Geschlechtergrenzen verschwimmen: Deutlich trainierte Muskeln bewegen sich im weißen Reifrock. Auch Iphigenio wird zu Iphigenie; der Sohn zur Tochter. Mit Perücke, Kleid und goldglänzender Kette versucht Iphigenio provokativ, den kühlen Vater mit einem Tanz zu beeindrucken. Erfolglos, denn der hat „viel zu tun, viele wichtige Dinge“.

Das verzweifelt-naive Bitten und der brennende Geschmack der Einsamkeit sollen den ZuschauerInnen durch eine Charakterteilung der Hauptfigur verdeutlicht werden: Dirk, der erst vor einem Monat in die WG kam, spielt den kindlichen Teil in Iphigenio. Der Teil, der ohne Scham nach Zärtlichkeit verlangt: „Streichel mich mal.“ Auch Klytaimestra, Iphigenios Mutter, will wie im wirklichen Leben das Tochter-Sohn-Wackelbild nicht wahrhaben. „Ich bin deine Mama und dein Papa“, verspricht darauf das Kind und damit Iphigenio sich selbst.

Für Griechenland entschließt sich Iphigenie zum Opfertod: „Ich bin alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ Wie Maik, der „jetzt halt sein Leben lebt“ und sagt, dass er seine Mutter nicht mehr braucht. Traurig-gerührt spielt er den Gang zum Opferaltar. Dafür kriegt er einen kleinen Rüpel vom Regisseur: Iphigenie soll eine stolze und glückliche Heldin sein. Dafür hält sich Maik im Alltag ganz und gar nicht. „Außerdem soll meine Mutter auch traurig sein“, rechtfertigt er sich, „schließlich hat sie mich weggestoßen.“

Letztmalige Aufführung des „Iphigenio“ heute um 20 Uhr im Jugendzentrum „Die Wille“, Wilhelmstrasse 115, 10963 Berlin.

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