: Neukölln ist nicht Amerika
In Berlins einziger Filiale der US-Einzelhandelskette Wal-Mart werden Verkäuferinnen zu Cheerleadern – doch so richtig haben sie die amerikanischen Regeln noch nicht verinnerlicht. Ein Besuch ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Alles ist riesig: Der Parkplatz, das Parkdeck, die Einkaufswagen. Das „Wal-Mart-Supercenter“ in Neukölln ist ein einziger Superlativ. Nicht kleckern, klotzen ist die Devise. Und das von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends.
Doch der Weg zum Ziel – einem vollen Einkaufswagen – ist mühsam. Hat man ein Markstück in einen der Wagen am Rande des Parkplatzes neben der S-Bahn-Station Neukölln gesteckt, beginnt ein beschwerlicher Anstieg Richtung Eingang. Die Räder des Wagens wollen auf dem holprigen Kopfsteinpflaster nicht gehorchen. Die Eingangstür schon vor Augen, gilt es noch, das Einkaufsgefährt zwischen alten Blumeneinfassungen und einem Poller durchzubugsieren. Dann ist man endlich drin, in der bisher einzigen Wal-Mart-Filiale in Berlin.
Weil Neukölln nicht Amerika ist, steht am Eingang, wo in den USA ein „People Greeter“ die Kunden begrüßt, ein mit Gummibällen gefülltes Plastikmonster. „Der Hit aus den USA. Der Riesenspaß für die kleinen Gäste.“
Dann beginnt der schwerste Teil des Einkaufs: die Suche nach dem Gewünschten auf der 11.000 Quadratmeter großen Einkaufsfläche. Auf dem Weg zur Lebensmitteletage muss man durch lange Gänge mit Microfaserjacken für 79,55 Mark, Wecker für 1,97 Mark, Restposten Lederjacken für 149,80 Mark, Kosmetik, Unterwäsche und Billigmöbeln wie dem Kleiderschrank „Boris“ für 279 Mark. Und aller paar Meter hängen Schilder wie „Immer Niedrigpreise“ oder „Garantiert bester Preis. Sollten Sie dennoch einen Markenartikel im Umkreis von 50 km günstiger bekommen, machen wir den gleichen Preis.“
Hat man endlich die Rolltreppe erreicht, die nach unten ins Reich der Lebensmittel führt, präsentiert sich auch dort der Eindruck unbegrenzter Möglichkeiten: unendlich lange und unendlich viele Gänge. Die suggerieren zwar, dass das Sortiment riesig ist. Doch das Gewünschte zu finden, ist eine andere Sache. Nach der Firmenphilosophie von Wal-Mart sollen Verkäufer Kunden ansprechen, wenn diese sich auf etwa drei Meter genähert haben. Doch die Berliner Verkäufer haben auch ein gutes Jahr nach der Übernahme des Marktes von Spar die amerikanischen Regeln noch nicht verinnerlicht. So wird der Kunde mitunter zum Pfadfinder. Die Auskünfte des Personals, „Milch ist irgendwo dahinten“, kommen zwar freundlich daher. Doch die Einlösung der Versprechen auf der Firmenkleidung – „Unsere Leute machen den Unterschied“ und „Wie kann ich Ihnen helfen?“ – ist das nicht.
Einem Großteil der Kunden steht der Sinn ohnehin nach anderem: den Wagen zu füllen, ohne dass das Portemonnaie leer wird. Ein 25-jähriger Schauspieler, der mit seinem fünf Monate alten Baby auf Einkaufstour ist, ist zufrieden: „Die Flasche Landliebe, die im Ökoladen drei Mark kostet, kostet hier eine Mark.“ Außerdem sei das Verkaufspersonal „anders drauf“, so sein Eindruck. Während in anderen Geschäften „die Verkäuferinnen darauf warten, dass man was falsch macht“, würden sie ihm bei Wal-Mart sogar hin und wieder beim Einpacken helfen. Auch eine 77-jährige Rentnerin empfindet das Personal als „sehr aufmerksam“. Ein 51-jähriger Kraftfahrer pflichtet ihr bei. „Alles ist besser“, sagt er: „Die Helligkeit, die Auswahl und die Anzahl des Personals.“ Ein 36-jähriger Baumaschinist hingegen kann keinen besonderen Service ausmachen. „Vom Personal sieht man keinen, sind doch eh alles Ausländer“, schimpft er.
Die bisher einzige Wal-Mart-Filiale in Berlin befindet sich in einem der ärmsten Bezirke der Stadt. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast 24 Prozent, knapp 14 Prozent der 300.000 Einwohner leben von Sozialhilfe, der Ausländeranteil beträgt 21 Prozent.„Wir passen uns den lokalen Gegebenheiten an“, sagt eine Wal-Mart-Sprecherin. Als Reaktion auf den hohen Ausländeranteil im Bezirk ist die Hälfte der 260 Mitarbeiter nichtdeutscher Herkunft. Frauen mit Kopftuch sind keine Seltenheit an den 21 Kassen. Auch in den Regalen schlägt sich die Anpassung an die Neuköllner Bevölkerung nieder: Wal-Mart bietet ein ganzes Sortiment türkischer Lebensmittel an, bis hin zu Nudeln aus der Türkei.
Damit die Neuköllner Filiale so schnell wie möglich amerkanischen Verhältnissen entspricht, war kürzlich eine Delegation aus den USA vor Ort. Ausgestattet mit Handys und Fotoapparaten wurden die Temperaturen der Tiefkühltruhen geprüft („Might be colder“) und Präsentation und Beschaffenheit der Produkte eigenhändig kontrolliert. Ein deutscher Mitarbeiter gab die Änderungswünsche sofort per Handy weiter. Schließlich soll im Frühjahr nach einer Reihe von Umbauten während laufendem Betrieb neu eröffnet werden. Um bei den Angestellten nicht das Gefühl einer amerikanischen Invasion aufkommen zu lassen, reichte ein Amerikaner einer Verkäuferin über die Wursttheke hinweg die Hand und fragte: „How are you?“ Die war so verdattert, dass ihr kein Wort über die Lippen kam.
Um das Personal zu motivieren, hat in Berlin auch ein Teil der amerikanischen Firmenphilosophie Fuß gefasst. Bei „morning meetings“ vor Schichtbeginn werden die Mitarbeiter nicht nur über Umsatz und neue Produkte informiert. Zur Einstimmung auf die Arbeit verwandeln sie sich für wenige Minuten in Cheerleader. Wenn der Chef sie auffordert: „Gebt mir ein W!“, „Gebt mir ein A!“, „Gebt mir ein L!“, rufen die Mitarbeiter im Chor die Buchstaben des Firmennamens. Fragt der Chef: „Wer ist die Nummer eins?“, antworten sie: „Der Kunde!“. Wem diese Art des „warming-up“ nicht liegt, kann es aber bleiben lassen. Derzeit erlaubt die Pressestelle keine Journalisten beim „warming-up“. Eine Verkäuferin sagte gegenüber der taz, dass sie die Meetings durchaus als „Motivationsschub“ empfinde.
Das große Nachsehen hat die „Aldi“-Filiale auf der anderen Seite der Karl-Marx-Straße. Betritt man den Laden nach Verlassen des Wal-Mart-„Supercenters“, kommt man sich vor wie in einem Tante Emma-Laden. „Viel ist nicht los“, bestätigt ein Verkäufer, der gelangweilt an der Kasse hockt. Gerne würde er sich mal die Konkurrenz anschauen. „Aber ich muss ja hier sitzen.“
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