: Routine und Plötzlichkeit
Feministischer Meilenstein, den niemand kennt: Das Metropolis zeigt heute Chantal Akermans minimalistischen „Jeanne Dielman“ ■ Von Uli Wegenast
Müsste man Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles in eine Kategorie packen, dann wäre es ganz sicher die der „Meisterwerke der Filmgeschichte, die niemand gesehen hat“. Chantal Akermans Film aus dem Jahre 1975 ist eines der Referenzobjekte des Feminismus und der Filmtheorie schlechthin, und dennoch ist er äußerst selten zu sehen.
Gerne als minimalistisch und strukturell beschrieben, ist dieses „Kino der Dauer“ eine betörend komplexe und gleichermaßen einfache Mikrogeschichte: drei Tage im Leben der Hausfrau und Gelegenheitsprostituierten Jeanne Dielman. In 200 und einer Minute hat Akerman mit ihrer Kamerafrau Babette Mangolte tableauartig den Arbeitsalltag der Witwe und Mutter fast in Realzeit festgehalten: Einkaufen, Kochen, Putzen – und nachmittags die Herrenbesuche. Akribisch und minutiös haben Akerman und Mangolte die stumpf-monotone, mitunter meditative Hausfrauenroutine aufgezeichnet. Faszinierend spröde gelingt es Akerman – noch mehr als den meisten Filmen des Direct Cinema – das Drama des „(Beinahe)-Nicht-Geschehens“ zu inszenieren. Drei Jahre zuvor hat Akerman mit dem stummen Hotel Monterey noch einen puren Film nach dem dokumentarischen Prinzip des Direct Cinema gedreht – Kamera aufs Stativ und abwarten, was passiert.
In Jeanne Dielman kombiniert sie dieses beobachtende, aber keineswegs voyeuristische Prinzip mit der Melodramatik des Aufbegehrens: Jeanne ermordet einen ihrer Freier. Dieser „Showdown“ hat Akerman den Vorwurf eingebracht, den Mechanismen des konventionellen Erzählkinos zu folgen. Doch Akerman möchte bei aller Lust am Experimentieren und bei allem Hang zum Reduzieren immer auch erzählen – wenn auch auf eine emotional und narrativ fragmentierte Weise.
Mit Eine ganze Nacht und Eine Coach in New York hat die Filmemacherin sogar nahezu ungebrochen rührende Liebesgeschichten inszeniert. Dieses scheinbare Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Fiktionalität findet sich exemplarisch bereits im Titel des Films von 1975 und in der Besetzung der Hauptdarstellerin wieder: Einerseits der Name der Protagonistin und die nüchterne Anschrift eines Hauses in Brüssel, das es tatsächlich gibt, andererseits die Besetzung der Jeanne Dielman mit der bereits damals durch die Filme Letztes Jahr in Marienbad und Der diskrete Charme der Bourgeoisie zur Ikone geronnenen Schauspielerin Delphine Seyrig.
Mit dem Glanz der Leinwandheroin Seyrig und dem mörderischen Akt der Rebellion bescheidet sich Akerman eben nicht auf eine rein sozialgeschichtliche Analyse der Lebensverhältnisse. Vielmehr nimmt sie sich das filmische Recht he-raus, die Wirklichkeit zu verwirklichen, sie in einem eigenen System zu gestalten. Dabei ist Jeanne Dielman jedoch weder illusionär noch utopisch, sondern repräsentiert modellhaft, was in der feministischen Debatte in den 70er Jahren in der Luft lag. 1974 wurde die Spezialausgabe der französischen Zeitschrift Les Temps Modernes – Les Femmes s'entetent von Simone de Beauvoir herausgegeben, deren Essays sich hauptsächlich mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen auseinander setzten.
In Belgien, dem Geburtsland von Akerman, organisierte 1975 die feministische Partei einen Kongress, bei dem ein 19-Punkte-Plan zu den Rechten der Frau bekannt gegeben wurde. Darunter war auch die bis heute in Deutschland und den meisten anderen Ländern nicht durchgesetzte Forderung, Prostitution arbeitsrechtlich anzuerkennen. Und die Performerin und Aktionskünstlerin Martha Rosler drehte im selben Jahr ihr legendäres Video Semiotics of the Kitchen, in dem die amerikanische Künstlerin mit ernst-kämpferischem Blick ein alphabetisches Lexikon der Küchenutensilien demonstriert.
Wie Rosler opponiert Akerman mit performativ-situativer Vehemenz nicht nur gegen das patriarchalische Joch, sondern gleichermaßen gegen einen allein akademischen Feminismus wie den arrogant-zynischen künstlerischen Konzeptionalismus. Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles ist ein Film, der voll in seiner Zeit steht und zugleich – im Gegensatz zu den Mythen produzierenden Drehbuchautoren Hollywoods oder Unterhachings – ganz und gar zeitlos ist. Ein Meilenstein der Filmgeschichte – ganz ohne Feldherrenperspektive.
heute, Metropolis, 19.30 Uhr
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