Letzte Abfahrt: Wirklichkeit: Goldfisch im Leitungswasser
Downtown-, Thailand- und andere Freaks: In Wim Wenders’ „The Million Dollar Hotel“ säuselt die Hippie-Moral, in Danny Boyles „The Beach“ gibt es ein bisschen Krieg
Oh Sonne im Februar! Oh dauerhafte Verantwortungslosigkeit inmitten einer der endlosesten Langstrecken des Arbeitslebens! Die Vorstellung von dauerhaftem Sonnenschein und die situationistische Utopie, nie wieder arbeiten zu müssen, sitzen seltsam eng verknüpft im kollektiven Unbewussten postdisziplinierter Generationen. Genau die Länder gelten im Norden als besonders Utopie-geeignet, wo sich auch gut Urlaub machen lässt.
Darauf baut auch das nördlichste unter den großen Filmfestivals. Die beiden diesjährigen Berlinale-Filme, die die Jugend mit der größten Entschlossenheit am Emotionsschopf packen wollen, mit U2-Gesäusel oder DiCaprio-Augen nämlich, bedienen sich dieser Idee: Urlaub als Utopie, als ganz andere Welt. Dafür ist dann kein literarisches Vorbild zu alt, keine weltanschauliche Mode zu Fifties und keine Trompeter-Silhouette in einem heruntergekommen Hotel zu Letzter Tango. Es gibt allerdings einen riesigen Unterschied zwischen der vollkommenen Abwesenheit von Geschichte in Wim Wenders’ „Million Dollar Hotel“ und dem Versuch, „Herr der Fliegen“, „Big Sur“, „Apocalypse Now“ und „Deer Hunter“ neu durchzuschütteln und mit „Traumstadt“ von Johannes Schaaf zu verrühren, den Danny Boyle bei „The Beach“ unternimmt.
Zwei Utopien: Der ganz andere Ort einerseits, wo die Menschheit unter dem Regime einer Matriarchin noch mal neu anfängt, vermeintlich abgeschlossen und unzugänglich für Kapitalismus. Und der Ort mittendrin andererseits, in dem aber alles transitorisch ist, alles offen und unklar: Menschen im Hotel, ohne Bindung, aber voller Flausen und liebenswerter Schnurren, ewig ambig blinzelnd. Dazu im Hintergrund Bono, fest entschlossen die Melodie der Songs, die er singt, zu vermeiden, indem er zu jedem Ton per Säuseln zwei, drei benachbarte Alternativen anstimmt. Beide Utopien scheitern natürlich, aber während das bei Wenders eher daran liegt, dass er ja irgendwas erzählen muss und nicht nur ambig blinzelnde Gesichter in kitschig-verfallenen Hotelzimmern zeigen kann, hat Danny Boyle noch den Ehrgeiz etwas über die Parallelen zwischen Tourismus, Imperialismus und Kolonialismus zu sagen, was aber auch auf der Hand liegt.
Ästhetischer Bankrott korrespondiert bei Wenders mit dem politischen, und der kommt aus dem musikalischen. Woher sonst? Das Blinzeln und Schmunzeln der Darsteller, denen man gesagt hat, dass sie Freaks spielen dürfen – Freaks in einem Hotel! – entspricht der Art, mit der der allgegenwärtige Bono einen Ton nicht Ton sein lässt, sondern ihn ständig kokett ein bisschen rauf- und runtermodellieren muss. Der Ton tänzelt. Das Hotel ist verzaubert. Es blinzelt. Und in diesem falsch für „offen“ gehaltenen Übergangszustand zwischen fis und g, diesem täppischen Tremolo trübsten Tonhöhenessenzialismus befinden sich nicht nur die Gesichter, dort säuseln auch die stets mit Kontaktmikro an den Mandeln flüsternden Stimmen, dort räsoniert die ewige Hippie-Moral, dass wir letzten Endes doch alle Freaks seien, auch der Bulle, räusper-raschpel.
Wenders’ Geschichtslosigkeit geht so weit, dass er es den ganzen Film durch nicht einmal hinkriegt, zwischen realer Obdachlosigkeit und Junkie-Verwahrlosung in dem Downtown-LA, wo sein blödes pittoresk-verfallenes Hotel steht, und seinem ewigen Chelsea-Hotel-Beatnik-Kitsch irgendeine Verbindung, einen Kontrast, ein Verhältnis herzustellen. Vielleicht weiß er gar nicht, dass er ein unsterbliches Klischee der Jugendbuchliteratur auf einen realen Ort projiziert, der für urbanen Verfall und als Testgelände einer weltberühmten Ausgrenzungsavantgarde bekannt ist. Oder er glaubt, und das ist am wahrscheinlichsten und schrecklichsten, sein pötisches Gesäusel gäbe den Obdis von Downtown ein bisschen Würde.
Boyle hat dagegen den immerhin die Unterscheidung von zwei historischen Momenten konzeptualisierenden Einfall, zwei Topoi zu konfrontieren: alte, nochideologische Aussteigerträume und aktuelle Pragmatiker, die ihr Utopia an einem thailändischen Strand unideologisch genießen wollen und mit den die andere Inselhälfte kontrollierenden Drogenbauern realpolitische Nichteinmischungspakte schließen. Das ist so weit, so amüsant. Dann verwandelt sich allerdings der pragmatisch-charmante Lady’s Man DiCaprio viel zu abrupt in einen irr-raunenden Colonel Kurtz, als wollte er sich an Wenders’ Rezeption bewerben, und kurz darauf bricht „The Deer Hunter“ aus und irgendwie soll sich aufdrängen, dass Aussteiger-Urlaub machen in Thailand eben ein bisschen auch wie Krieg machen in Vietnam ist. Dafür kickt die Darstellung von Bangkok am Anfang und es wird nicht so altmännerhaft-sentimental dahergelogen wie bei Wenders.
Die von Tilda Swinton gegebene Verwalterin von Hippieträumen im Zeitalter des Neoliberalismus scheint nämlich ein letztes Mal erfolgreich zwischen der alten Utopie und der neuen World Order vermitteln zu können. Die Ideologie, in der ein Wenders und seine Figuren schwimmen wie Goldfische in lauwarmem Leitungswasser, wird am Beach in ihrem letzten Kampf gezeigt, den sie natürlich verliert. Das dämmert sogar Leonardo, dem unpolitischen Lebemann, womit er immer noch einige Jahrhunderte schlauer ist als Mel Gibson, der am Ende des Hotels erst weiß, was am Anfang von The Beach schon 40 Jahre bekannt ist: Dass wir in unserem Inneren eigentlich eher Zirkusclowns als Bullen sind.Diedrich Diederichsen
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