: Die Sehnsucht unserer Herzen
Was ist das eigentlich: die Liebe? Wie fühlt sie sich an? Wie ist es um uns bestellt, wenn die Liebe da ist? Furchtbare Fragen. Sie führen in das Labyrinth schwer zu ertragender Gefühlswahrheiten. Denn sie konfrontieren uns mit uns selbst. Quälend für alle Liebenden und Nichtliebenden: Kann man wahrhaft lieben? Kann man wahrhaft geliebt werden? Muss man opferbereit sein, um sich der Liebe würdig zu erweisen? Erörterungen über eine Fülle von Missverständnissen von Viola Roggenkamp
Im menschlichen Körper wird der Liebe das Herz zugeordnet. Dieser kleine blutige Muskel, durch dessen dunkle Kammern die Trommelschläge dröhnen, soll der Liebe Zentrum sein. Nicht etwa das Auge, das sich verguckt und auf den ersten Blick zu erkennen meint, was Sache ist. Oder der Bauch, in dem Schmetterlinge wirbeln.
Nein, das Herz allein. Als sei die Liebe das Leben, und zwar ohne Sinn und Verstand. Denn der Kopf ist es nicht, der als Wohnsitz der Liebe fantasiert wird, was zu denken geben müsste. Tut es aber leider nicht. Und gerade die Liebe wäre wert, auch mit dem Verstand behandelt zu werden, das, was der Seele in ihrer Tiefe bewusst ist, da sie es bedeckt hält: die eigenen Abgründe.
Alle Welt singt und spricht über die Liebe. Kaum stellt man das Radio oder – noch schlimmer – das Fernsehen an, schon ist einem das Wort nach wenigen Minuten zehn- bis zwanzigmal in die Ohren geschmettert worden. Was da durchgetalkt und im Viervierteltakt verschnulzt wird, kann aber unmöglich die Liebe sein.
Doch wen soll man fragen? Verliebte? Man frage nicht Verliebte, was Liebe sei. Außer einem seligen Lächeln bekommt man keine Antwort. Sie sehen nur sich selbst, als seien sie eins miteinander und nicht zwei im Gegenüber. Schon gar nicht haben sie Platz für jemand Drittes.
Lassen wir sie schwelgen und schmachten. Solange ihr Zustand anhält, ist mit ihnen nicht zu reden und zu rechnen. Sie glauben zu wissen, was Liebe ist, während wir längst wissen, dass sie sich demnächst langweilen und krachen und trennen werden.
Wie viel Lebenszeit braucht man, um anzuerkennen, dass die Sehnsucht danach, mit dem geliebten Menschen eins zu sein, nicht Liebe ist, sondern Gefräßigkeit! Man verschlingt sich gegenseitig, und am Ende ist keiner und keine von beiden mehr da. Wie bei Julia und Romeo. Erst stirbt sie, oder war er es? Dann wacht sie wieder auf und denkt, er sei tot, und bringt sich um. Und dann wacht er auf und denkt, sie sei tot, und bringt sich um, während sie noch einmal aufwacht, oder war er es? Und endlich sind sie beide tot, und das Publikum geht schmerzverzückt nach Hause.
Warum schmerzverzückt? Wie kommt die Verzückung in den Schmerz? Da war man nun Zeuge einer großen Liebesgeschichte und wie sie sich fünf Akte lang über Familienfehden und Hass hinwegsetzte, und am Ende darf man mit ansehen, wie die Liebenden in den Tod flüchten müssen, während wir uns mit der Banalität abfinden, dass uns kein Liebeskummer umbringt.
Im Gegenteil suchen die meisten Menschen die Liebe am liebsten bei der Frau oder dem Mann, in der oder dem sie – selbstverständlich nur unbewusst – ihrem altvertrauten ureigenen Kummermuster immer wieder begegnen können.
Dieser Unsinn macht Sinn. Das kommt von weit her, vom Anfang des eigenen Lebens zwischen Nacht und Tag, zwischen Mutter und Vater und all denen, die beim Kind Liebe gesucht haben oder zumindest das, was sie selbst dafür hielten oder für Liebe zu halten gelernt hatten. Die Folge davon: eine Laufmasche in der kindlichen Psyche, die ein Liebesleben lang hochgehäkelt werden will, als sei die traumatische Beschädigung, der Fadenriss in der Kinderseele, nie geschehen.
Eine das Selbstbild bedrohende Kränkung, die unbewusst in der Liebe zu anderen so oft wiederholt und wieder hochgeholt wird, solange sie nicht gesehen werden darf – am wenigsten von einem selbst – als etwas, was geschah und zu einem gehört. Möglich, dass die Liebesfähigkeit da wächst, wo mühevoll aus dem Unbewussten ins Bewusstsein geschleppt und in Todesängsten ausgehalten wurde, sich selbst nicht mehr lieben zu können, wenn zu sehen ist, womit man dennoch geliebt werden möchte.Die Verzweifelten scheinen der Liebe verbundener als die Zufriedenen zu sein und die Unglücklichen ihr näher als die Glücklichen, die den Verlust der Liebe zu fürchten haben. „Ja, Liebe pflegt mit Kummer stets Hand in Hand zu gehen“, singt Agathe, während sie auf ihren Max wartet. Agathe ist die Enkelin vom toten Erbförster Kuno, dessen Bild von der Wand fällt, gerade als ihr die Brautjungfern statt der Brautkrone aus Versehen die Totenkrone bringen.
Ein böses Omen jagt das andere, denn der junge Jäger Max, der in letzter Zeit so viel Pech hatte und sich beim Schützenfest Agathe als seine Braut erschießen (!) soll, um sie für sich zu gewinnen, Max ist schon im Bund mit dem Bösen, der ihm im Austausch für seine Seele todsicher treffende Freikugeln geben wird. Der arme Kerl ist ein schlechter Schütze, aber Agathe will ihn haben.
Die romantische Liebe, die Inhalt dieser deutschen Oper „Der Freischütz“ ist, hat die fatale Neigung, selig in den Tod gehen zu wollen, als würde die wahre Liebe die endgültige Selbstauflösung verlangen. Da steht nun Agathe am Fenster, und am Nachthimmel steht der Mond, nur Max bleibt aus. Die goldnen Sterne glühen rein, aber von Ferne zieht ein dunkles Wetter auf. Sie weiß um Maxens schwache Nerven und betet zum „Vater im Himmel“, damit er ihr als Gegenleistung für ihre Seelenqual Max in den Schoß fallen lässt. Da kommt er, und nun ist aller Liebeszauber und Seelentrubel im Orchester los. Anrührende Frommheit der jungen Frau verbindet sich mit ihrer lustvollen Leidenschaft: „All meine Pulse schlagen, und das Herz wallt ungestüm . . .“ Obwohl sie es besser wissen müsste, ist Agathe ganz Zuversicht.
Die Botschaft heißt: Die Liebe ist stärker als das Böse. Das freut das Publikum, ob im „Freischütz“ oder beim „Terminator“. Noch schöner, wenn die Auflösung im Tod als Liebe fantasiert, verlangt oder herbeigesehnt wird, wenn die Vernichtung des Lebens die heiligste Liebe sein soll. Eine Verklärung. Am süßesten fließen die Tränen des Publikums angesichts der im Tod vereinten Liebenden.dass unter dieser als Liebe bezeichneten Todessehnsucht sadistische Allmachtswünsche verborgen sind und darunter die Angst, dass Hingabe in Liebe tatsächlich Ohnmacht und Auslieferung sein könnten, der psychische Tod, der erlebt und überlebt wird im Gegensatz zum physischen Tod.
Vielleicht ist Liebe ein Paradoxon und darin so wahrhaftig, dass Enttäuschung und Kummer als Korrektive unweigerlich vorgegeben und besonders dann quälend fühlbar sind, wenn sie mit Liebe zugedeckt werden, anstatt sie miteinander auszuhalten. Zu lieben und geliebt werden zu wollen ist Teil der gegensätzlichen Gefühlswelt von Wut und Hass. Dazwischen segelt immer irgendwo die Hoffnung.
Im Schiff der Hoffnung ist man mit sich und der Liebe allein. Der geliebte Mensch, dem alles Sehnen und Hoffen gilt, kann einem nichts kaputtmachen, noch nicht, und man selbst bleibt auch ganz ideal. Aber die Fähigkeit zur Liebe braucht mehr: Sie braucht die Erfahrung, Kummer und Enttäuschung zu überleben, sie braucht Getrenntheit und Selbstliebe.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heißt es in der Bibel. Sich selbst lieben, nachsichtig mit sich sein können, sich Gutes gönnen, sich selbst nichts vormachen, mit sich genau sein: Das ist die wichtigste Voraussetzung für die Liebesfähigkeit. Aber was haben die lieben Christen aus der Nächstenliebe gemacht? Selbstopferung. Welche Zumutung! Erst recht für die lieben Nächsten. Was ist das anderes als der seelische Tod. Wer will in diesem Zustand noch wirklich lieben können? Und wer will von so jemandem geliebt werden? Wie quälend. Wie unlebendig. Soll denn die oder der andere gar nichts haben dürfen? Liebe ist nicht selbstlos. Liebe will ein Objekt, genauso wie sie Raum braucht und Getrenntheit und gegenseitige Wertschätzung.
„Halten und lassen“, sagt die Marschallin im „Rosenkavalier“ zu ihrem ungestümen Octavian. Und was antwortet er? Dass sie wie ein Pater spreche und ob er sie nie wieder werde küssen dürfen, „bis ihr der Atem ausgeht“. Ja, doch. Aber wie lange würde Octavian das wollen, wenn sie es immerzu brauchte? Was gäbe es zu ersehnen, wenn da nicht auch die Getrenntheit wäre?
Das Banalste ist unter Umständen das Schwierigste. Möglich, dass deshalb die unglücklichen Liebesgeschichten die beliebtesten sind. In ihnen findet das Publikum Trost für die eigenen Lebenskatastrophen. Der Welt berühmtester Liebesroman, mit einer höheren Auflage, wie es heißt, als die Bibel, nämlich „Vom Winde verweht“, ist fraglos darum so beliebt, weil Scarlett O’Hara und Rhett Butler miteinander scheitern.
Die Autorin Margaret Mitchell musste bis zu ihrem Tod tausende Briefe beantworten, in denen sämtlich die gleiche Frage gestellt wurde: Ob die beiden wieder zusammenkämen? Ihre Antwort war immer gleich: „Ich weiß es auch nicht.“
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