: Weltrevolution im Waisenhaus
Japan und die Folgen von 1968: Mit „Knabenchor“ (Wettbewerb) nähert sich Akira Ogata dem Thema vom Rand ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Dass 1968 nicht nur in Berlin, Prag, Berkeley und Paris Studenten und Jugendliche gegen das System rebellierten, vergisst man im Westen nur allzu oft. Auch im Japan der späten 60er-Jahre gingen die Menschen gegen den autoritären Staat auf die Straße, linksradikale Gruppen wurden aktiv und eine neue, gerechtere Welt schien greifbar nahe zu sein. Die Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen zerschlugen sich hier wie dort, auch wenn der Terror der alten Welt weiterging: In den frühen Siebzigern flogen die Amerikaner ihre Angriffe gegen den Vietcong auch von japanischen Basen aus.
Mit den Fragen, die 68 auch in Japan aufwarf, beschäftigten sich einige japanische Filme in den letzten Jahren – der 1987 mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnete Dokumentarfilm „Vorwärts Armeee Gottes“ von Kazuo Hara etwa oder der unglaublich brutale „Kichiku da enkai“ von Kazuyoshi Kumakiri, der 1998 im Panorama zu sehen war. In dem einen Film wurde ein unbeugsamer Pazifist porträtiert, der andere erzählte vom Zerfall einer linksradikalen Splittergruppe.
In „Boy's Choir“ nähert sich der japanische Regisseur Akira Ogata den Ereignissen eher vom Rand her. Der Film spielt Anfang der 70er-Jahre. Schauplatz ist ein katholisches Waisenhaus für Jungen im tiefen Norden Japans, in das der 15-jährige Michio (Atsushi Ito) nach dem Tod seines Vaters gebracht wird. Ein idyllisches Plätzchen in romantischen Bergen, wo Knaben kurz vor ihrem Stimmbruch vor allem klassische deutsche und russische Volkslieder singen und davon träumen, einmal mit den Wiener Sängerknaben durch die Welt zu touren.
Seino (Teruyuki Kagawa), der Lehrer und Chorleiter des Instituts, gehörte früher zu einer Gruppe, die gewaltsam gegen das System kämpfte, und veranstaltet nun Bibelkurse. Michio wird zunächst von seinen neuen Kameraden gehänselt, weil er stottert. Ein anderer Junge, Yasuo (Sora Toma), steht ihm bei. Beide freunden sich an und helfen einander. Yasuo ist der beste Sänger des Knabenchors; Michio muss nicht mehr stottern, wenn er singt.
Der Knabenchor bereitet sich auf Chorwettbewerbe vor; im Bibelkurs des Lehrers taucht eine ehemalige Genossin auf, die von der Polizei gesucht wird. Als sie gefunden wird, sprengt sie sich vor den Augen der Knaben in die Luft, die sich fortan mit allem kindlichem Fanatismus auf die anstehenden japanischen Chormeisterschaften vorbereiten, um mit einem russischen Lied die Weltrevolution voranzutreiben.
„Boy's Choir“ ist ein großartiger Film, der seine großen historischen Themen auf beeindruckende Weise mit den persönlichen Geschichten der Knaben verbindet; wenn er davon erzählt, wie die Jungen Todesgefahr und Todeserfahrungen suchen, um mit dem Tod ihrer Eltern fertig zu werden, wenn er sehr zärtlich von der Freundschaft der beiden jungen Helden spricht, wenn er sehr detailliert und mit aller Ruhe von der schwierigen Arbeit an der Stimme in den Chorstunden erzählt.
Besonders schön – und vor allem im Wettbewerb selten – ist, dass Akira Ogata des Öfteren darauf verzichtet, die Szenen zu zeigen, auf die die Dramaturgie des Films die ganze Zeit hingearbeitet hatte. Etwa den Vortrag des Lieds, mit dem sie beim Chorwettbewerb gewinnen wollten. Dadurch gewinnt der Film eine ganz eigene, schöne Melodie.
Am Ende von „Boy's Choir“ muss man übrigens weinen. Bei der Pressekonferenz fragte ein amerikanischer Journalist, ob die beiden Knaben nicht eigentlich schwul wären und wieso er da nix gezeigt hätte. So unhöflich sind die Amis!!
„Dokuritso Shonen Gasshoudan – Knabenchor“. Regie: Akira Ogata. Mit Atsushi Ito, Sora Toma, Teruyuki Kagawa. Heute, 12. 2., 20 Uhr, International
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