piwik no script img

Eben kein Einzelfall

■ Langzeitbeobachtungen wie „Big Brother“ definieren bloß den gegenwärtigen Stand der Fernsehunterhaltung

Zehn Menschen werden am 1. März für die RTL 2-Show „Big Brother“ in Köln-Hürth einen Pavillon beziehen und vor unablässig aufzeichnenden Kameras als Wohngemeinschaft leben. Wer sich vergeblich ums Mittun bewarb, muss nicht verzagen, denn schon in dieser Woche werden wieder Kandidaten gesucht: Sat.1 fahndet per TV-Spots nach Anwärtern für eine neue Show mit dem vorläufigen Titel „Die Insel“.

Die Teilnahme erfordert freilich mehr als nur genügend Lektüre für 100 eher ereignisarme Tage. Die Mitspieler werden auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt, damit sie unter den Augen der Kameras in Robinson-Manier tapfer allerlei Geziefer und Witterungsunbill trotzen – und innerhalb der Gruppe bestehen. Denn wie bei „Big Brother“ werden auch hier regelmäßig Mitspieler abgewählt.

„Big Brother“ ist keine singuläre Erscheinung. Weltweit definieren derartige Langzeitbeobachtungen den derzeitigen Stand der Fernsehunterhaltung. Die „Survival“-Version geht zurück auf ein Format mit dem Titel „Expedition Robinson“, das von der britischen Firma Planet 24 ursprünglich für den US-Markt entwickelt worden war. Anstelle der Amerikaner aber griff eine schwedische Produktionsfirma zu und fand im nationalen Staatsfernsehen einen Abnehmer. Von Protesten begleitet, ging 1997 die erste Staffel über den Sender und erwies sich als Publikumsrenner. Überschattet wurde die Reihe vom Selbstmord eines Kandidaten, dessen einschlägige psychische Disposition im Vorfeld nicht bemerkt worden war.

In Eigenregie für wenig oder im Bus für viel Geld – egal

Im Herbst vergangenen Jahres wurde eine solche Produktion auch vom Schweizer Privatsender TV 3 mit großem Erfolg ausgestrahlt. Eine zweite Staffel beginnt dort am 12. März. Sat.1 wird mit TV 3 bei seiner „Insel“-Version kooperieren. In den USA sind vergleichbare Sendereihen in Vorbereitung, während in den Niederlanden am 13. Februar „Big Brother auf Rädern“ beginnt – für die Reihe „De Bus“ werden elf Passagiere auf eine sechzehnwöchige Reise geschickt und währenddessen ununterbrochen von Kameras erfasst. Den Bus dürfen sie nur verlassen, um spezielle Aufgaben der Spielleitung zu erledigen. Auch hier scheiden die Mitwirkenden einer nach dem anderen aus, dem Gewinner winkt ein Geldpreis in Höhe von gut 900.000 Mark.

Die Mitspieler der Reihe „Geld für dein Leben“, mit der tm 3 ab 27. Februar Zuschauer locken möchte, werden selbst zu Regisseuren. Sie filmen ihr eigenes Leben, unbeeinflusst von den Redakteuren, die aus dem eingesandten Material auswählen und für jede gesendete Minute 10 Mark zahlen.

Zuschauer interessieren sich verstärkt für ihresgleichen

Für die Produzenten all dieser Shows ist es ein Leichtes, genügend Bewerber zu finden, denn die spektakulären Sendungen versprechen medialen Ruhm. Einige der niederländischen „Big Brother“-Kandidaten kalkulierten von vornherein ganz bewusst mit der Möglichkeit, dauerhaft von ihrem Auftritt zu profitieren. Ihre Rechnung ging auf: Selbst die Verlierer der Show streben Platten- oder TV-Karrieren an, erhielten Werbeverträge oder promoten mit ihrem Bekanntheitsgrad die eigene Firma.

Ein hoher Bekanntheitsgrad zahlt sich aus. Für Sportler beispielsweise, die früher Platten besangen und in Filmen auftraten und heute erst recht weit gefächerte Möglichkeiten finden, ihren Nimbus zu vermarkten. Inzwischen aber lässt sich das gleiche Ziel auch anders erreichen: Neben den Leistungssport ist die Leistungs-Show getreten.

Dem entspricht ein Trend, der sich unter anderem am Aufkommen so genannter Docu-Soaps ablesen lässt: Verstärkt interessieren sich Fernsehzuschauer für ihresgleichen. Die Protagonisten derartiger Sendungen verfügen über unspektakuläre Biografien. Somit ist es ein Leichtes, sich mit ihnen zu identifizieren. Im Falle „Big Brother“ könnte nahezu jeder TV-Teilnehmer an die Stelle der Protagonisten treten, denn besondere Begabungen sind nicht erforderlich. Einer der Reize dieser Sendung entsteht aus der Überlegung, wie man selbst in einer der dargebotenen Situationen reagiert hätte. Obendrein erhalten die Zuschauer Entscheidungsbefugnis, sie alle sind „Big Brother“, wenn sie darüber befinden dürfen, wer den Abenteuerspielplatz verlassen muss.

Vorläufer dieser Entwicklung ist das Internet mit seinen Webcams, die es erlauben, andere Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu beobachten. Einige geben sich der Neugier in einer Art Selbstversuch preis, andere tun dies gegen Bezahlung, wie in einem US-amerikanischen „Studentinnenwohnheim“, dessen Bewohnerinnen sich gegen Logis und Honorar den installierten Kameras aussetzen.

Auch „Big Brother“ verdankt seinen Erfolg nicht zuletzt dem Internet. Während der Sender Veronica werktags halbstündige Zusammenfassungen zeigte und darin den Tagesablauf der Kandidaten dramatisierte, ermöglichten Webcams eine 24-Stunden-Beobachtung nach Gusto des Nutzers.

Fernseh-Shows – das gilt nicht nur für „Big Brother“ – repräsentieren gesellschaftliche Entwicklungen. Populistische Kritik, die fälschlich von einem „TV-Knast“ spricht oder die Mitspieler mit Laborratten vergleicht, wird den Vorgängen nicht gerecht: Die Teilnahme an „Big Brother“ ist freiwillig, und es besteht jederzeit die Möglichkeit, zu gehen – wovon in den Niederlanden auch Gebrauch gemacht wurde.

Ungleich fragwürdiger sind hingegen Sendungen, die Menschen ohne deren Wissen ins Visier nehmen und der Schadenfreude des Publikums aussetzen. In dieser Hinsicht hat, damit es nicht in Vergessenheit gerate, keineswegs das Kommerzfernsehen, sondern die ARD die Maßstäbe verändert: in der 1998 erstmals ausgestrahlten Reihe „Ein ehrenwertes Haus“ wurden nichts ahnende Zeitgenossen mit grotesken Situationen, z. B. einem angeblichen Mordversuch, konfrontiert und dabei von hochgerüsteter Aufnahmetechnik observiert – ohne dass darob kritische Stimmen vernehmlich geworden wären.

Harald Keller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen