: Nicht mehr so sicher nicht PDS wählen
■ Berliner Schnauze und taktische Tips für linke Nordlichter: PDS-Fraktionschef Gregor Gysi auf Wahlkampf in Norderstedt
Als er mit zehnminütiger Verspätung zum Mikro schreitet, hat Gregor Gysi gleich die Lacher auf seiner Seite. Mit grüblerischer Stimme verkündet er, er habe sich „dazu durchgerungen, die Wahl der PDS zu empfehlen“. Doch die Vertrautheit mit den etwa 250 ZuhörerInnen ist schnell verschwunden. Wenig später schon bleibt die Reaktion aus. Wenn Gysi die Stimme erhebt, ins Berlinern verfällt, oder mit der Hand auf den Pult klopft, brandet bei seinen Auftritten in Ostdeutschland wohl tosender Applaus auf. Doch in Norderstedt sprach der Vorsitzende der PDS-Bundestagsfraktion am Montag Abend in der Diaspora.
Zunächst will das Publikum im Sitzungssaal des Rathauses hören, warum sich die rot-grüne kaum von der Kohl-Regierung unterscheide. „Ich sehe nicht, dass sich die Lage von Flüchtlingen gebessert hätte. Was Schily dazu sagt, habe ich auch schon von Kanther gehört.“ Applaus. Und schon ist Gisy bei seinem Lieblingsthema: „Soziale Gerechtigkeit. Ohne Wenn und Aber“, wie es auf dem Banner über dem Rednerpult heißt. Im Bundestag herrsche „ein neoliberaler Konsens nach der Devise: Wir müssen der günstigste Standort sein. Also weg mit Flächentarifverträgen und Renten runter“. Das Thema Renten verfängt auch in Norderstedt – zwei Drittel des Publikums dürften über fünfzig sein, der Rest ist unter dreißig, die Generation dazwischen fehlt fast komplett.
Starken Applaus heimst Gisy erst wieder ein, als er den deutschen Kosovo-Einsatz geißelt, durch den „kein einziges Menschenrechtsproblem gelöst wurde.“ Weiter zur Ökosteuer: „Es ist absurd, ausgerechnet die Industrie von der Steuer auszunehmen: Die Sozialhilfeempfängerin mit ihren zwei Lampen wird das Problem jedenfalls nicht lösen.“ Der Saal taut allmählich auf. Wie aber soll man den Schleswig-Holsteinern erklären, dass ihre Stimme für die PDS nicht verloren ist? Wo dort doch bei der vergangenen Bundestagswahl nur 1,4 Prozent die Postsozialisten gewählt haben. Gysi ist zu klug, um vom Einzug in den Landtag zu fabulieren. Drei Prozent für die PDS seien dennoch ein Erfolg: „In dem Maße, wie die PDS steigt, machen sich die anderen Parteien Gedanken, wie sie das künftig verhindern können. Wenn sie dann soziale Politik machen, überlegen wir uns eine andere Begründung, warum Sie dennoch PDS wählen sollen.“
Fertig, aus, Applaus. Gysi schreibt noch Autogramme und entfleucht gen Berlin. „Reden kann er ja“, resümiert ene Zuhörerin. Ob sie denn PDS wählen würde? „Heute nachmittag hätte ich das verneint. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Christoph Ruf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen