: Gedächtnis ist Konstruktion
Der Choreograf Tom Plischke gehört einer neuen Generation an, die den Ästhetizismus der Achtzigerjahre radikal überwindet ■ Von Gabriele Wittmann
Manchmal erinnern wir uns daran, dass wir etwas vergessen haben. Ist das nicht paradox? Wie funktioniert unser Gedächtnis? Bis wir zur Sprache gefunden haben, haben wir unser Bewusstsein darüber verloren, wie wir angefangen haben. Wie funktioniert Erinnern? Und wie erinnert sich Bewegung im Tanz?
Tom Plischke ist ein denkender Tänzer. Einer, der Philosophie studiert hat und Kunstgeschichte. Einer, der davon lebt, Fragen zu stellen. „Tänzer“, sagt er, und verzieht das bubenhafte Gesicht, Jahrgang 1971, „nicht Choreograf“. Darauf beharrt er. Für seine Gruppe „B. D. C.“ choreografiert er zwar, und Choreografie hat er auch studiert. Aber die Gruppe arbeitet im Kollektiv, das ist ihm wichtig.
Anfänglich war ihm das Tanzen nur Hobby. Doch dann ermutigten ihn Lehrer, den Tanz zum Beruf zu machen. Neben seinem Studium in München geht er auf die Iwanson-Schule. Doch von dem „Modern-Geplänkel“ ist er bald desillusioniert: „Ich fand das ehrlich gesagt ein sehr albernes Rumgehüpfe.“ Dann sieht er Meg Stuart mit ihrem Solo „readymade“ – und ist begeistert. „Sie wird Darstellerin und Versuchsobjekt im gleichen Moment. Das kannte ich von der Videokunst von Bruce Naumann, diesen intimen Blick auf den Körper. Aber bei ihr ist es ein Moment, der nicht wiederholbar ist. Und damit wird man als Publikum ständig in die Wahrnehmung der Gegenwart und damit in das Vergessen gerissen. Das fand ich so intensiv, dass ich dachte: Der Tanz ist ein spannendes Medium.“ In Wien tanzt er mit einem Freund, geht zur Audition von P.A.R.T.S., der neuen Choreografenschule von Anna Teresa de Keersmaeker. Und ist einer der Ersten, die bei ihr in Brüssel studieren. Aber er kehrt ihrem konkreten Tanz schnell den Rücken. Sie liegt ihm nicht: die Postmoderne. Mit ihrer abstrakten Haltung im Tanz. Mit ihrer Vorliebe für Differenzen in der Philosophie. Tom Plischke ist einer, der Meinung hat. Und sich eher dem Projekt der Moderne zurechnet, den Körper auf seine gespeicherte Bedeutung zu befragen.
In seinem jüngsten Projekt über die menschlichen Affekte, „Affects“, am vergangenen Donnerstag – leider unfertig und mit vielen Fehlentscheidungen behaftet – am Frankfurter Mousonturm uraufgeführt, beschäftigt er sich unter anderem mit dem Werk „Affectos Humanos“ der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer.
Am 30. Dezember 1967 nahm sie sich das Leben: Dore Hoyer, die Künstlerin mit der Hakennase und dem unduldsamen Blick. Bei Gret Palucca hatte sie gelernt, hatte Solo- und Gruppenwerke geschaffen, und dann, im Alter von 34 Jahren, auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, choreografiert sie Rückblicke auf die antifaschistische Widerstandsbewegung. Doch im Nachkriegsdeutschland ab 1945 will man anderes sehen als Tänze für Käthe Kollwitz. Unterhaltsame, glitzernde Ballette bestimmen die Programme an den Theatern. Dore Hoyers Tourneen verkaufen sich schlecht, und obwohl sie in Berlin den Kritikerpreis für ihr Gesamtwerk erhält, kann sie nur noch vereinzelt auftreten. „Der Barfußtanz ist tot“, schmetterte ihr eine Kollegin entgegen, so erinnert sich die Zeitzeugin und Freundin Waltraut Luley, und ihre Stimme schwillt bedrohlich an, wenn sie diesen Satz rezitiert.
Waltraut Luley hat dem Tänzer Martin Nachbar geholfen bei der Rekonstruktion der „Affectos Humanos“. Die eigentlich keine Rekonstruktion ist, denn Martin Nachbar tanzt in Plischkes „Affects“ zwar die gleichen Bewegungen, aber er verbindet sie mit seinem Atem und lässt sie rollen, fließen. Wo doch die Hoyer jeden Schritt leicht, aber scharf gesetzt hat. Und trotzdem: Wenn Martin Nachbar „Begierde“, „Hass“ und „Angst“ aus dem fünfteiligen Zyklus tanzt, dann lebt dieser „Barfußtanz“ wieder auf. Und mehr noch: Man begreift, dass diese Choreografie nicht nur erhaltenswürdig ist (leider fehlt noch der beste Teil, „Liebe“), sondern sogar übertragbar auf einen Tänzer anderen Geschlechts.
Für Tom Plischke ist die Frage nach der eigenen Herkunft im Tanz, der Blick in die Geschichte, eine wichtige Brücke. Schon im vorigen Stück, in „events for television (again)“, beschäftigte er sich mit Rekonstruktion. Er konfrontiert darin die postmoderne Auffassung Merce Cunninghams, dass Tanz nichts als reine, bedeutungslose Bewegung sei, mit der Auffassung der Moderne: dass nämlich jede Bewegung etwas erzählt, etwas vom Körper und seiner Geschichte, etwas vom Individuum und wie dieses die Kultur durchläuft. Er wählt dafür ein berühmtes Werk der Moderne, den „Sacre du printemps“, und erörtert daran die Themen Sexualität, Disziplin, Ritual. Zur Bandschleife von Strawinskys bedrohlich anschwellender Musik sitzen Alice Chauchat und Martin Nachbar am Tisch, wo sie ihr Essen schneiden, kauen und verdauen – und das absolut synchron, wie theatrale Readymades. Plötzlich besudeln sie ihre jungfräulich weißen T-Shirts mit rotem Tomatensaft – alles läuft weiterhin synchron. „Das ist mein Essensmuster“, erklärt Plischke, „wir haben mich gefilmt beim Essen, und die Tänzer mussten lernen, wie ich Messer und Gabel halte und anfange zu essen – das war wahnsinnig schwierig, das exakt synchron auszuführen.“
Es geht Plischke nicht um die Entwicklung eines persönlichen Stils, nicht um ein spezifisch gewachsenes Bewegungsvokabular, das ihn als Choreografen auszeichnet. Es geht ihm darum, einen Diskurs über Bewegung herzustellen, genauer gesagt: über Bewegung als Träger von Bedeutung. „Insbesondere der Tanz als aus dem Ritual geborene Kunstform sollte Aufschluss auf die Mythen, Ängste, Träume dieser Gesellschaft geben können“, sagt Plischke. Und packt den Zuschauer durch eine direkte Konfrontation. Im dritten Teil der Performance stopfen die Darsteller nicht nur ihre nackten Körper in Nylonstrumpfhosen, sondern auch noch Fotos, Videobänder, Plastikblümchen. Dann suchen sie sich wiederholt einen einzelnen Zuschauer heraus und bieten ihm ein „Geschenk“ aus ihrer Hose dar. Doch sobald man es greifen möchte, ziehen sie es weg – oder positionieren es an anderen Körperstellen, lassen die Hände samt Geschenk über den Rücken gleiten und halten sie über der nackten Arschspalte. Damit entfachen sie im Zuschauer einen Kanon an Affekten, die in braver Reihenfolge auf sein Bewusstsein einstürmen: Langeweile, Neugier, Begehren, Zensur, Aggression, Scham, Erkenntnis, Entsetzen und zum Schluss, mit der aufkeimenden Frage: Wer ist der Impresario dieser sich so exakt wiederholenden Reihenfolge? – Verwunderung.
Doch diese Arbeit ist nicht jedermanns Sache. Zuletzt bei der deutschen Tanzplattform im Januar in Hamburg brach unter der Fachwelt eine Kontroverse aus. Das sei kein Tanz mehr, hieß es. Der Tanz sei tot, der Tanz verschwinde in den angrenzenden Künsten. Manche der Altkritiker grollen dieser Form der Performance als einer, die sie schon vor zwanzig Jahren gesehen haben, damals, als die Künstler in den Sechzigerjahren noch experimentierfreudig waren.
Für Plischke oder auch Xavier Le Roy, für Boris Charmatz, Thomas Lehmen und Jerôme Bel ist genau das der Ansatz, weiterzumachen. „In den Sechzigern ist ziemlich viel passiert, nicht nur in den Künsten. Doch in den Siebziger- und Achtzigerjahren ist der Tanz abgedriftet in glatte Ästhetik. Der Tanz ist zum Produkt geworden“, beschwert sich Plischke. Und hat Recht damit. Eben weil viele der Fragen immer noch nicht bearbeitet sind, wollen Künstler wie Plischke noch einmal dort anknüpfen. Sein Kollege Xavier Le Roy meint: „Die Siebziger waren eine Sackgasse.“ Contact Improvisation reifte zur vorzeigbaren Bühnenkunst, aber dabei ging der Arbeitsprozess verloren. „Vielleicht kann man die Fragen und Arbeitsweisen erneut stellen“, überlegt Le Roy, „aber von heute aus.“
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