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Wege ohne Auswege

Hamburg hat die höchste Suizid-Rate. Dafür gibt es viele und keine Gründe  ■ Von Sandra Wilsdorf

Der erste kann der letzte Platz sein: Beleg dafür ist die Statistik der Selbsttötungen. Die führt Hamburg nämlich vor allen anderen Bundesländern an. Während die Rate im restlichen Land sinkt, ist sie in Hamburg auf hohem Niveau konstant. „Nach den neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 1998 haben sich in Hamburg 333 Menschen das Leben genommen“, sagt Professor Paul Götze, Leiter des Therapiezentrums für Suizidgefährdete (TZS) am Universitäts-Krankenhaus Eppendorf, das einen psychotherapeutischen Ansatz verfolgt.

Die zweithöchste Selbsttötungsrate, also die Zahl der Selbstmörder je 100.000 Einwohner, hat Sachsen. Es folgen Thüringen, Sachsen-Anhalt, Bremen und Bayern. Warum, ist völlig unklar. „Es gibt viele Hypothesen, aber jede kann man sofort entkräften“, sagt Georg Fiedler vom TZS. Vielleicht liegt es daran, dass Hamburg eine Metropole ist, „aber warum ist die Rate dann in Berlin so viel geringer?“ In den neuen Bundesländern gibt es traditionell höhere Selbsttötungsraten. Das war auch schon vor der Wende so, und der abnehmende Trend ist seit Beginn der 80er Jahre zu beobachten, also kein Wendephänomen.

„Arbeitslosigkeit und Sinnkrisen scheinen keine Ursachen zu sein. Es sind viele Faktoren, die zusammen kommen“, sagt Fiedler. Aber es gibt ein paar Faustregeln: Die Zahl der Suizide nimmt im Alter zu, bei jungen Menschen sind die Versuche häufiger. Etwa ein Drittel aller Selbstmorde werden nicht als solche erkannt. Es bringen sich dreimal mehr Männer um als Frauen. Bei den Suizidversuchen ist es umgekehrt. „Das hängt mit der traditionellen Männerrolle zusammen. Männer trauen sich weniger, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt Beningna Gerisch vom TZS. Männer, die einen Suizidversuch überlebten, litten oft darunter, es anders nicht geschafft zu haben.

Dass bei Männern häufig berufliche oder finanzielle Schwierigkeiten als Ursache für einen Selbstmord genannt würden, stimme meist nur vordergründig. „Männer wählen berufliche und finanzielle Probleme häufig als Ursachen für eine Beratung. Trotzdem geht es meist um Beziehungsprobleme“, sagt Gerisch. Ähnlich ist es bei jungen Menschen. „Wir bezweifeln, dass sich jemand wegen einer schlechten Zensur umbringt.“ Auch da liege es meist an Partnerschaftskonflikten und sehr geringem Selbstwertgefühl.

Ein Problem sehen die TZS-Experten darin, dass es zu wenig Hilfe für Suizidgefährdete gibt. „Die meisten sprechen vorher davon, dass sie sich umbringen“, sagt Götze. Viele erzählten ihrem Hausarzt von undefinierbaren Beschwerden und wollten eigentlich darüber reden, dass sie des Lebens müde sind. „Das wird häufig nicht verstanden.“ Im übrigen sei wichtig, das Thema aus der Tabu-Zone zu holen. „Es sterben mehr Menschen durch Selbstmord als im Straßenverkehr, durch Drogen oder als Opfer von Gewalttaten zusammen“, sagt Fiedler.

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