: Tschaikowsky Fried Chicken
Wie eine Fastfood-Kette das russische Ballett gerettet hat ... ■ Von Wladimir Kaminer
Mein alter Freund Maxim befand sich gerade am Ende seiner Karriere. Seine Schule des klassischen russischen Balletts hatte von Soros kein Geld für das neue Jahr gekriegt. Die Miete wurde seit drei Monaten nicht bezahlt.
Die Schauspieler bekamen auch nichts mehr. Die Tänzer magerten ab, sie konnten ihre Partnerinnen nicht mehr so hoch heben, obwohl die meisten Frauen sich der gefährlichen Dreißig-Kilo-Grenze näherten und schon bei den kleinsten Sprüngen und Drehungen in Ohnmacht fielen. Tag für Tag durchkämmte Maxim die Stadt auf der Suche nach Sponsoren, alles vergeblich. Keine Sau interessierte sich für modernes Ballett. Seine Produktion – eine moderne Fassung von „Schwanensee“ – war gefährdet. In seiner Verzweiflung hatte Maxim immer öfter Suizidgedanken, er hatte sich schon einen Strick besorgt und sein letztes Geld für eine Flasche Tequila ausgegeben, um den Abschied mit dem Leben sanfter zu gestalten.
Auf einmal klingelte bei ihm das Telefon: ein Sponsor. Am nächsten Tag saß Maxim im Warteraum eines Büros und betrachtete aufmerksam die Goldfische in einem Riesenaquarium, die aus echten, faustgroßen Goldklumpen bestanden und an der Glasscheibe des Aquariums festgeklebt waren. Diese neureichen russischen Sitten waren Maxim immer noch fremd. Der Leibwächter – ein Doppelgänger von Schwarzenegger –, die Sekretärin – Claudia Schiffer –, die goldenen Goldfische überzeugten Maxim, dass er es mit einem seriösen Unternehmen zu tun hat. Der Boss erwies sich als Inhaber einer Billigrestaurantkette namens „Wachsen und Gedeihen“, eine Art russischer McDonald's, der im Volk ziemlich beliebt war und „Wichsen und Gedeihen“ genannt wurde.
„Pass auf, Bruder“, sagte der Boss, „ich möchte ehrlich zu dir sein – vom Ballett habe ich keine Ahnung. Was machst du für ein Stück?“ „Schwanensee. In einer modernen Fassung.“ „Cool. Geflügel kommt immer gut an. Ich gebe dir Kohle, aber nur unter einer Bedingung.“ „Wir werden Ihr Unternehmen ganz fett in der Mitte unseres Plakats in goldenen Buchstaben plazieren“, versprach sofort Maxim. „Vielen Dank, aber darum geht es nicht“, sagte der Boss und drückte auf den Knopf. „Ich will, das meine Liebste bei euch mitspielt. Komm her, Katja“, rief er durch die Tür. Sie öffnete sich automatisch, und Katja kam rein. Es war das Mädchen aus dem Werbespot für „Wachsen und Gedeihen“, das jeden Tag im Fernsehen lief. Katja hatte einen großen Po und ausladende Brüste.
Mindestens 90 Kilo, schätzte Maxim mit dem erfahrenem Auge eines Ballettlehrers. „Ist das nicht eine süße Ballerina?“ Der Boss strahlte und fasste Katja an den Hintern. Maxim biß sich auf die Zunge und sagte: „Hervorragend, bei uns wird sie bestimmt ganz groß rauskommen.“ „Das will ich hoffen!“, sagte der Boss und unterschrieb den Scheck. „Und bevor ich’s vergesse, das Essen für das ganze Team ist bei mir im Restaurant umsonst, so oft Sie wollen.“
Die Ballettproduktion war erst mal gerettet. Zur ersten Probe erschien Katja im Bikini. Die Tänzerinnen waren entsetzt: „Verwandelt sich unsere Schule in ein Bordell oder was?“ Die Männer schwiegen. Sie guckten sich die neue Partnerin aufmerksam an und schluckten. Maxim hatte für die Neue einen ganz tollen Platz gefunden: Ganz hinten rechts in der zweiten Reihe des Corps de Ballett. Zusammen mit dem Lichttechniker wurden einige Scheinwerfer umgestellt – aus dem Zuschauerraum war Katja nun nicht mehr zu sehen. Sie wirkte so, als ob ab und zu eine dunkle Wolke von rechts nach links durch die Hinterbühne zog. Allerdings hörte man Katja trappeln. Auf Zehenspitzen konnte sie wegen ihres Gewichts nicht laufen. Mit geschlossenen Augen konnte Maxim erkennen, in welche Ecke es sie gerade verschlagen hatte.
Einige Ensemblemitglieder waren entsetzt, doch das erste Essen im Restaurant „Wachsen und Gedeihen“ brachte alle Kritiker zum Schweigen. Seit Jahren hatte das Ballett nicht mehr so gut gegessen. Erster Gang, zweiter Gang, dritter Gang – und umsonst schmeckte alles noch mal so gut. Nach einer Woche trappelte bereits die ganze Truppe, und Katja fiel nicht mehr besonders auf. Die Ensemblemitglieder nahmen das Essen vom Restaurant mit ins Theater und kauten ständig während der Proben. Die Tänzer rissen nun mit Leichtigkeit gleich zwei Partnerinnen vom Boden und drehten sie rülpsend im Tanz.
Am Ende des zweiten Monats kam der Boss zu einer Probe. „Sag mal, Bruder, mein Weib ist überhaupt nicht zu sehen, ich will, dass sie das Hauptgeflügel spielt.“ „Aber der Part vom Hauptgeflügel ist sehr kompliziert. Ich möchte Katja nicht überfordern“, erwiderte leise Maxim, der im Geiste wieder an Suizid dachte. „Mach dir keine Sorgen, Bruder, sie schafft es“, beruhigte ihn der Boß. Auf einmal kam die Truppe mit der Musik von Tschaikowsky nicht mehr klar: Sie war plötzlich viel zu schnell. Das Orchester, das sich ebenfalls seit Monaten im gleichen Restaurant bediente, fing mit Vergnügen an, langsamer zu spielen. Zur Begleitung der langsamen Musik brachte nun der weibliche Teil der Truppe schunkelnd seine Beine und sonstigen Körperteile in Bewegung. Maxim schien, er sei in der Hölle und inszeniere die Apokalypse.
Am Premierentag war das Theater ausverkauft. Katja sollte das Hauptgeflügel tanzen. Maxim stand im dunklen Gang mit einem Strick in der Hand: „Sie werden mich sowieso aufhängen“, dachte er. Es wurde ein Riesenerfolg. Das Publikum jubelte eine ganze Stunde lang. Die Bühne war mit Blumen wie mit Schnee bedeckt, die Sektkorken knallten. Der Boss ließ seine Leibwächter aus allen Knarren mit Platzpatronen in die Luft schießen. Katja holte Maxim persönlich aus dem Strick heraus und trug ihn auf die Bühne. In ihren Händen sah er wie ein kleines Kind aus. Am nächsten Tag brachten alle Moskauer Zeitungen ein Foto von den beiden – mit der Überschrift: „Das russische Ballett ist wiederauferstanden.“
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