: Kongeniale Realitätserfinder
Jüngste Londoner Neuemission: Der deutsch-englische Autor und Regisseur Marc von Henning betört in Stuttgart
Bücher und Koffer beherrschen die Bühne. Bücher am Anfang und Koffer am Schluss. Und dazwischen dürfen wir selbst dort stehen, wo die Schöpfungen von Literaten Monumente bildeten und wo später die sperrigen Partner der Unruhe einziehen werden. Von dort oben sieht man im Parkett sechs Darsteller Anmache spielen und mit Chipstüten rascheln.
Dies ist die heiter-leichte Mitte der „Unruhe am Rand der Schöpfung“, die Marc von Henning im Theater im Depot des Stuttgarter Staatsschauspiels nach eigenen Texten uraufgeführt hat. Zwei der drei monologisch verhandelten Motive sind für den deutsch-englischen Autor und Regisseur, dessen Gruppe Primitive Science zu den viel versprechendsten Neuemissionen der Londoner Theaterszene zählt, bereits alte Bekannte: Der blinde Bibliothekar, eine Hommage an Jorge Luis Borges, stand 1996 im Zentrum einer seiner Inszenierungen, und die schwebende Trapezkünstlerin erschien bereits 1995 bei einem Kafka-Abend. Das neu hinzugefügte Mittelstück des Stuttgarter Tryptichons hat von Henning dem Dramaturgen David Tushingham gewidmet. Ein Mann bleibt nachts im Theater zurück und träumt.
Kongeniale Realitätserfinder sind auch der Bibliothekar und die Artistin. Ersterer träumt von Reisen ans Meer, hat aber immer nur die Landschaften seiner Bücher erkundet. Und die Königin der Lüfte kann sich ein Leben auf dem Boden (der Tatsachen?) längst nicht mehr vorstellen. „Sollte ich mich aber wirklich auf den Weg machen, um die Sache mal selbst gesehen zu haben, würde es sich höchstwahrscheinlich als unwahr herausstellen.“ Sagt der Büchermensch. Glauben wir ihm alle.
Marc von Henning hat als Autor einen eigenen Ton, der in den Ohren singt. Da spürt man den rhythmusgeschulten Heiner-Müller-Übersetzer, aber auch eine Vorliebe für zärtlich-versponnene Themen und Details. In seiner ersten Regiearbeit mit deutschen Staatstheaterschauspielern haben die tief hängenden Lampen den einzigen Zweck, malerische Büchersäulen zu illuminieren und dann mit Sand zu berieseln. Und wenn der Bibliothekar das unendliche „Sandbuch“ öffnet, das in Stuttgart aus Glas ist – dann überzieht sich Bernhard Baiers Gesicht mit einer Melange aus Panik und Verzückung. Das Buch leuchtet dazu, und aus einem Eimer steigt Rauch auf.
Dass das nicht abstürzt in Richtung Kitsch, verhindert die Primitive-Science-typische Trennung von Erzählung und Spiel. Diese Schere geht immer weiter auf: In Teil eins spielt Baier noch am Wort entlang, das vom Bühnenrand her eingesprochen wird. Der Theatermensch des zweitenTeils trägt seine Visionen laut zwischen den Zuschauern spazieren, doch die Erscheinungen unten im Parkett spielen, was ihnen gerade passt. Dass Wort und Bild dennoch atmosphärisch eins sind, ist ein kleines Wunder und undenkbar ohne die hypnotische Musik von David Benke, die die Aktionen rhythmisch gefrieren und langsam wieder erwachen lässt.
Die Unruhe wohnt in den Gedanken. Draußen auf der Bühne triumphiert die Langsamkeit. Gut eine Stunde hat Eva Negele über unseren Köpfen auf ihren Einsatz gewartet. Dann liegt sie bäuchlings auf der gefürchteten Erde. Und während eine Stimme von der Angst vor dem Leben erzählt, kämpft die Trapezkünstlerin mit einem Kofferbündel. Mehl rinnt durch Finger, und in einer Truhe plätschert Wasser. Ästhetik ist nicht alles. Aber schöne Bilder sind schöne Bilder. Das findet wohl auch Marie Zimmermann. Die künstlerische Leiterin des Festivals „Theaterformen“ hat Primitive Science mit ihrer Produktion „Theatre Dream“ zur Eröffnung des Festivals nach Hannover eingeladen.
SABINE LEUCHT
„Unruhe am Rand der Schöpfung“ von Marc von Henning. Regie: Marc von Henning. Theater im Depot/Staatsschauspiel Stuttgart. Nächste Aufführungen: 18., 29. März, 14. April 2000
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