: Haydn als Tango in postmoderner Textur
■ An zwei Konzertabenden wird die St. Johanniskirche in Harvestehude zur „Klangzone“ zwischen freiem Jazz und Neuer Musik – ohne Esoterik
Die Kirche als „Klangzone“ – das ist Titel und Idee der Konzerte, die heute und morgen in der Harvestehuder St. Johanniskirche zu hören sein werden. Der bekannte Satz, dass Architektur gefrorene Musik sei, wird noch einmal aufgegriffen: Die Akustik des Gotteshauses soll mit kirchenfremden Klangfarben (Gongs, Didjeridoo) und ungewohnten Klangmustern (Improvisation, Atonalität) neu vermessen werden – ein Grenzgang zwischen freiem Jazz und Neuer Musik. Dass dies auch ohne Esoterik geht, zeigen Björn Lücker (Schlagzeug, Gongs) und Heinz-Erich Gödecke (Posaune, Didjeridoo, tibetische Hörner), die als AAD – Altona Art Duo den heutigen Abend eröffnen. Selbstironisch, mit einer Spur musikalischer Blasphemie, präsentiert im Anschluss das Quartett Kaffeehaus Avantgarde zum Beispiel Haydn als Tango oder Allgäuer Zwiefacher im Flamenco-Stil.
Nach dem Duo Volker Kottenhahn (Klavier) und Söhnke Düwer (Schlagzeug) lädt am Freitag Cephyrus zum Erkundungsgang in der Klangzone Kirche ein, der durchaus (musik-)geschichtliche Dimensionen erschließt: Fast selbstverständlich gehört für diese Klangvermessungen die Orgel dazu, bedenkt man, dass einstmals die Kirchen aus akustischen Gründen mitunter um diese herumgebaut wurden. In der E-Musik verstummte sie nach der Spätromantik und erlebte ihre populäre Renaissance bei Sportveranstaltungen und in der Kinomusik.
Das mechanische Zeitalter ist bekanntlich durch die mikroelektronische Revolution beendet worden, auch wenn gerade von den technischen Utopien des Barock Unabgegoltenes blieb, welches noch heute jeder Synthesizer bewahrt. Für Hans Schüttler, Björn Lücker und Heinz-Erich Gödecke ist es deshalb ein naheliegendes Experiment, Orgel- mit elektronischen Klängen zu kontrastieren. Gerade die Kirchenakustik ermöglicht das klangliche Ineinandergreifen von analoger und digitaler Musik. So entstehen noch zusätzliche Schichtungen in der Klangzone, die durchaus postmodern als Texturen verstehbar sind – „Cephyrus“ bedeutet nämlich „feinfädiges Gewebe“. Roger Behrens
heute, 20 Uhr: AAD und Kaffeehaus Avantgarde; Freitag, 20 Uhr: Kottenhahn/Düwer-Duo, Cephyrus, St. Johanniskirche Harvestehude, Heimhuder Straße/Turmweg
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