: „Naser und Minah waren erst 17“
Heute gedenken die Bewohner des kosovo-albanischen Bergdorfes Kotlina an der Grenze zu Makedonien mit einer Feier der Opfer eines Massakers. Vor einem Jahr waren 22 junge Männer von serbischen Truppen bestialisch ermordet worden
Aus Kotlina ERICH RATHFELDER
Schon von weitem sind die Erdlöcher am Berghang zu sehen, wo genau vor einem Jahr ein furchtbares Massaker stattgefunden hat. Die rund 500 überlebenden Bewohner des Bergdorfs Kotlina im Süden Kosovos nahe der Grenze zu Makedonien bereiten sich auf eine Gedenkfeier vor. Heute werden viele Menschen aus der Umgebung erwartet, die noch einmal von jenen 22 jungen Männern Abschied nehmen, die hier bestialisch ermordet wurden.
Der 43-jährige Haziz Loku war damals Hausmeister in der Schule des albanischen Dorfs. Jetzt ist er einer der Hauptzeugen für die Ermittler des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag. Denn Loku hat das Massaker von einem Versteck aus beobachten können. Am Vormittag des 24. März sei Motorenlärm zu hören gewesen, erzählt er. Fahrzeuge der jugoslawischen Armee seien die Straße heraufgekommen. 70 bis 80 durch Hasskappen getarnte Männer in schwarzen Uniformen seien ausgeschwärmt und hätten wild um sich geschossen. Gleichzeitig seien vom Kamm des Bergs serbische Truppen aufgetaucht.
Das Dorf war eingeschlossen. An eine Flucht war nicht mehr zu denken. Frauen und Kinder drängten sich auf dem Dorfplatz, die Männer, vor allem die jungen, versuchten im Wald am Berghang Schutz zu suchen. Durch Zufall hatte der Berichterstatter damals per Mobiltelefon Kontakt zu Valdet Loki. Die junge Frau telefonierte gerade mit einem Verwandten jenseits der Grenze und rief: „Jetzt sind sie noch 300 Meter entfernt, noch 200 ...“ Dann brach der Kontakt ab.
Haziz Lokus Stimme ist brüchig, als er von den Geschehnissen berichtet. „Du kannst den Schock nie ganz überwinden.“ Er sah von oben, wie die Soldaten die Frauen und Kinder umkreisten, wie drei ältere Männer vor ihren Häusern erschossen wurden, Idriz Kuqi, Vesel Vlashi und Zymer Loku. Die jüngeren Männer waren den Berghang hinaufgeflohen. Die Soldaten schossen in diese Richtung und durchsuchten systematisch das Waldstück gegenüber seinem Beobachtungsposten. Einige Männer wurden auf einer Lichtung zusammengetrieben, er hörte ihre Schreie, Schüsse, dann eine Explosion. Am Nachmittag kamen Lastwagen und transportierten Frauen und Kinder ab. Die älteren Männer mussten marschieren. Zwei Soldaten in der Uniform der jugoslawischen Armee setzten die Schule und den Gesundheitsposten in Brand. Ein Haus nach dem anderen ging in diesem Teil des Dorfes in Flammen auf. Die Soldaten verschwanden.
Jetzt stehen wir vor den beiden Erdlöchern, wo die getöteten jungen Männer hineingeworfen wurden. „Als die Soldaten weg waren, ging ich zu dieser Stelle. Auch noch ein paar andere Männer hatten das Massaker überlebt. Was wir sahen, ließ uns erstarren.“ Die Leichen von 14 Männern lagen in der ersten Grube. Manche waren erschossen, anderen fehlten Köpfe und Gliedmaßen. „Wir haben schon vor den Den Haager Ermittlern festgestellt, dass die Männer gefoltert, manche von ihnen mit Nagelbrettern erschlagen wurden. Auf den Haufen der Leichen wurde eine Handgranate geworfen. Die acht Männer in der zweiten Grube waren erschossen worden.“
Nach Kacanik gebracht, wurden die Frauen und Kinder freigelassen. Ihnen gelang die Flucht nach Makedonien. Die älteren Männer wurden in der Polizeistation geschlagen und flohen ebenfalls ins Nachbarland. Ende Juni, nach dem Einmarsch der Nato-Truppen, kamen die meisten wieder zurück nach Kotlina. Auch Valdet Loki, die damals telefonierte, lebt wieder mit Vater und Mutter, der Schwester und den Brüdern Nuhi und Nezad hier.
Das Haus war ausgebrannt, die Mauern aber standen noch. Inzwischen hat die Familie das Dach installiert und zwei Räume bewohnbar gemacht. Das Material lieferte die US-amerikanische Hilfsorganisation US-Aid. „Wir bekommen humanitäre Hilfe“, sagt der Vater. Was würde, wenn die wegfiele, weiß er nicht. Niemand habe Arbeit. „Immerhin haben wir wieder etwas Vieh.“
Nezad Loki, der 20-jährige Bruder, hatte das Massaker in einem Maiskoben überlebt. Mit einem Geländewagen ist er jetzt nach Kacanik gefahren, um einen Gedenkstein für die Feier zu holen. Alle Namen der Getöteten sind dort vermerkt. Die meisten gehören den Großfamilien Loki, Loku oder Kuqi an. „Naser Loku und Minah Kuqi“, sagt Nezad Loki, „waren gerade 17 Jahre alt.“
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