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Fundiert, glasklar, zutiefst emotional

■ Die Kirche St. Ansgarii erlebte eine packende Aufführung der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach unter der Leitung Wolfgang Mielkes

Der Regisseur und ehemalige Intendant des Hamburger Schauspielhauses, Ivan Nagel, dem wir ein wunderbares Buch über Mozart verdanken, hat zur Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ eine Rede gehalten, in der er anhand der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach seinen Appell gegen das Vergessen richtete. Ich vergegenwärtigte mir diesen Text, weil ich für die Rezension der Aufführung der „Matthäus-Passion“ der St. Ansgarii-Kantorei etwas Futter suchte, das mir die Möglichkeit gibt, über lobende Worte hinauszugehen. Denn das hat diese packende, fundierte, glasklare und zugleich zutiefst emotionale Aufführung unter der Leitung von Wolfgang Mielke verdient. Deswegen sind die Ausführungen Nagels eine zutreffende Beschreibung der Wirkung dieses Konzertes.

Auch ein Ivan Nagel sucht Hilfe in der Frage nach Unschuld, Mitschuld oder Schuld, in der Frage nach Erinnern und Vergessen. Er findet sie ausgerechnet in der Kunst, der so viele die aktuelle politische Kommentarfähigkeit absprechen. Und er findet Hilfe ausgerechnet in einem Stück, das wie keines um Ostern herum religiöse Gefühle herabrieseln lässt, die sonst längst nicht mehr da sind. In der Gegenüberstellung der erzählten Geschichte mit den antwortenden Chorälen der Gegenwart sieht Nagel den Dialog von Vergangenheit und Gegenwart: „Auf das Verbrechen von einst antworten Schuldbekenntnis und Reue von heute“. Mielkes ungekürzte Bach-Aufführung überzeugte vor allem durch die bestechende Klarheit der Trennung der Ebenen: Da ist die vom Evangelisten erzählte, spannende Geschichte vom Widerständler gegen die im Lande herrschende Ideologie, die auf die Staatsmacht übergreift, und der getötet werden soll; da sind die peitschenden Chöre der römischen Soldateska, des Pöbels von Jerusalem, aber auch der Jünger; da sind die klagenden und kommentierenden Solo-Arien und die kraftvollen Choräle, verstanden als gegenwärtige, kollektive Reflexion, die zugleich eine individuelle ist. „Ich bin's, ich sollte büßen“, singt das Kollektiv, nicht: „Wir“!

Das Norddeutsche Barock-Collegium und das Barockorchester Hamburg unterstützten das Geschehen mit blendenden Instrumentalsprachen und -farben. Als einer der Höhepunkte darf hier die Flöte des Zentralstückes „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ genannt werden. Zusammen mit der Sopranistin Ursula Ziegler, die eine klangschöne Intimität ohnegleichen erreichte, platzierte Mielke den erschütternden Charakter des Stückes als Insel zwischen den beiden „Kreuzige“-Chören. Der Evangelist Max Ciolek hatte seine ganz eigene Art, Aktualität herzustellen: ein blendender, stets nach vorne drängender Erzähler. Bertold Possemeyers Chris-tuspartie war so intensiv und unsentimental, wie ich sie von diesem Sänger noch nie gehört habe. Der Bass Matthias Gerchen setzte gerade in den Pilatus-Partien hochdramatische Akzente.

Auch die Altistin Shirin Partowi beeindruckte durch Klangschönheit und Artikulation. Überhaupt ist die Homogenität, die die fünf SängerInnen unter sich, mit dem Chor und den beiden Orchestern hatten, in dieser Perfektion selten. Das Ganze war nichts weniger als ein großer Wurf, an dem der Chor in seinen vielen Partien einen maßgeblichen Anteil hatte. Und wieder einmal unfassbar, dass dieses unsterbliche Werk eigentlich rein funktional von Bach eigentlich nur für einen einzigen Gottesdienst geschrieben wurde: den Karfreitag 1729. Sehr herzlicher und hörbar betroffener Beifall in der leider nicht ganz vollen Kirche. Ute Schalz-Laurenze

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