normalzeit: HELMUT HÖGE über punktuelle Aufmerksamkeit
AUSDAUER STATT KONZENTRATION
Ich erinnere mich noch, wie lange wir – d. h. Gerd Nowakowski und ich – diese (Stadt-)Kolumne vergeblich planten. Und plötzlich ging es. Inzwischen sind vier oder fünf Jahre vergangen – hunderte von Texten: Recherchen, Trendmeldungen, Klatsch, müßiggängerische Ansichten, Anekdoten, Witze, Terrormeinungen und umgekehrt: Widerstand gegen Meinungsterror. Was auch immer. Jeden Mittwoch ist Annahmeschluss. Manchmal fühlte ich mich zensiert, oft gehetzt. Du musst was schreibenswertes Erleben. Aber nicht suchen, sondern finden! Dann wieder lobte ich meinen Job: Wo kann man schon seinen Ärger derart umstandslos entsorgen – und dann noch was dafür bezahlt bekommen?! Der Anstand verbietet es mir, so etwas Arbeit zu nennen. Und sei es nur aus Abscheu gegenüber all den Politikern, die von „Ärmel hochkrempeln“ reden. Imre Kertész spricht vom „auf Erzählbarkeit gerichteten Leben“, von seinem dabei „ständig ans Nichterzählbare stoßenden, mit dem Nichterzählbaren – natürlich vergeblich – ringenden Leben“. Die Freundin, die mir Kertész nahe legte, meint, es komme einzig darauf an, sich Geschichten zu erzählen – und zwar nichtverwertbare: so wie die zwischen Mutter und Kind ausgetauschten. Meine Mutter erzählte in Gesellschaft am liebsten Tiergeschichten. Ich schleppte laufend neue Haustiere an, die sie dann versorgte. Und die ihrerseits dafür meiner Mutter Geschichten lieferten. Für ihre Erzählungen gab ich ihr dann die Stichworte. Später – als selbständiger Erzähler – erlebte ich eigene Tiergeschichten. Z. B. die mit zwei halbwüchsigen Orang-Utans, die ich im Zoo – in dem ich arbeitete – jeden Morgen als Erstes ins Freigehege bringen musste. Das Freigehege war eine Insel in einem See, auf der sich ein Häuschen befand, das den Orangs bei Regen Unterschlupf bot. Ich ging also mit den Affen an den See, bestieg ein Schlauchboot, ruderte rüber zur Insel und ging dort an Land, um das Häuschen zu kontrollieren. Danach musste ich noch vier kleine Kragenbären am Schlafittchen raustragen, wobei sie versuchten, mir die Hand abzubeißen. Das gehört aber nicht hierher. Eines Morgens sprangen die beiden Orangs, während ich die Tür ihres Häuschens auf der Insel öffnete, wieder zurück ins Schlauchboot, das durch den Schwung auf den See hinaustrieb. Nun war ich auf der Insel – und kuckte den abtreibenden Affen entsetzt hinterher. Das muss so blöd ausgesehen haben, dass die beiden Orangs sich halb totlachten und vor Vergnügen auf die Gummiwülste schlugen. Mir war bis dahin schon öfter mal ein Tier weggeflogen oder sonstwie abhanden gekommen – ein Pfau, ein Nashornvogel, ein ganzer Schwarm Finken, sodass ich erschrak: Da schwammen mindestens 20.000 Mark. Zum Glück kam ein Pfleger vorbei, sah das Malheur, krempelte seine Hose hoch und griff sich das Schlauchboot im Wasser. Die einzige Folge dieses Zwischenfalls war, dass die Orangs mich seitdem etwas mehr mochten – und nicht mehr in meine Gummistiefel bissen. Und ich mich noch immer gerne an ihr Lachen erinnere. Was hat diese Geschichte aber nun mit dem von Kertész so genannten „eisernen Vorhang zwischen Erzählen und Leben“ zu tun, an dem der Schriftsteller sich abarbeite? Für die Beantwortung dieser Frage muss ich Sie auf die nächste Kolumne vertrösten. Schon aus Platzgründen.
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