: Dreckige Facts
Maxim Biller liest heute im Literaturhaus aus seinem Familienroman „Die Tochter“ ■ Von Maike Albath
Maxim Biller streitet sich gern. Vor allen Dingen unter deutschen Intellektuellen, so bemerkte er einmal in seiner Tempo-Kolumne „100 Zeilen Hass“, greife eine Form des differenzierten Denkens um sich, das furchtbar langweilig sei. In der Tat ist das abwägende Für und Wider vieler Diskussionen lähmend, und da wirkt ein Polemiker wie Maxim Biller, der offen Position bezieht, ziemlich erfrischend. Stoff für Auseinandersetzungen bietet auch sein erster Roman Die Tochter.
Motti Wind heißt sein Held, ein zerquälter Israeli, der seit 15 Jahren in München festhängt. Vom Libanonkrieg traumatisiert, kam er 1982 in die bayrischen Metropole, wo er Frau und Tochter hatte, die ihm beide abhanden gekommen sind. Die Gründe für die Einsamkeit seiner Hauptfigur verschweigt Maxim Biller bis zum Schluss; Motti verliert sich in Andeutungen, die ein bedrückendes Geheimnis verbergen. Die Leerstellen des zerfledderten Erinnerungsvermögens mit Vermutungen zu füllen, ist Sache des Lesers.
Der Roman beginnt mit einer drastischen Szene, die Mottis zerstörter Psyche entspricht: An einem Sonntagnachmittag, allein in seiner Wohnung, gönnt sich Motti sein wöchentliches Pornovideo und erkennt in einer der Darstellerinnen seine inzwischen halberwachsene Tochter Nurit. Nun will er sie suchen, sie ihrer Mutter Sofie entreißen und endlich nach Israel zurücckehren. Motti bricht auf zu einem Spaziergang durch die unwirtliche Stadt, der bis in den Abend dauert und von Biller wie ein Rahmen um Mottis zersplitternde Biographie gelegt wird. Denn Motti marschiert auf seiner Odyssee nicht nur durch Schwabing, fährt mit Taxi, Bahn und Tram vom Flughafen in die Innenstadt nach Puchheim und von dort bis in die Wohnung seiner Ex-Frau in die Amalienstraße, sondern fällt in kurzen Erinnerungsblitzen zurück in seine israelische Kindheit, den Krieg und die ersten Jahre in Deutschland.
Die Tochter ist ein gelungener Roman, auch wenn er manchmal zu kippen droht, weil die Distanz zusammenschmilzt und die semantische Dichte zugunsten harter facts und dreckiger Recherche, wie sie Maxim Biller schon 1991 in der Weltwoche einforderte, herunter- gekocht wird. Am besten gelingt Biller die deutsch-israelische Familien-Genealogie mit ihren pathologischen Verkrustungen, deren treffsichere Beschreibungen jede Menge neurotischer Energien enthüllt.
Sofie und Motti bilden eine Schicksalsgemeinschaft: Sie sind beide innerlich versehrt und kaputt, sie brauchen einander, auch wenn meist völlige Sprachlosigkeit herrscht. Dass das Gleichgewicht aus dem Lot gerät, als ihre Tochter Nurit geboren wird und sich ein Beziehungsmuster mit katastrophalen Folgen herausbildet, scheint nur folgerichtig. Sofie, eine dicke, blasse, verschlossene Frau, ist von einer Kälte befallen, die sie nur um sich selbst kreisen lässt und für die Regungen anderer unempfänglich macht. Motti, schmächtig, klein und dunkel, ist vom Krieg gezeichnet und überempfindlich. Er liebt seine Nurit abgöttisch, sorgt rührend für sie und beginnt mit einer Mischung aus Horror und Lust sich an ihr zu vergreifen.
Angstgetrieben lässt Biller seinen Helden durch die Stadt rasen: In ihm gären die Verletzungen früherer Generationen, er agiert – so könnte man den Roman interpretieren – die Machtlosigkeit der erniedrigten Eltern aus, die den Holocaust überlebten, und wird vom Opfer zum Täter. Gleichzeitig rächt er sich an den passiven Eltern und heiratet eine Frau des Volkes, das den Holocaust verantwortet. Sofies Autismus treibt Motti in eine Ersatzpartnerschaft mit seiner Tochter, deren seelische Störung der Vater zwar wahrnimmt, aber lange Zeit verdrängt. Nurit ist von Geburt an krank, weil sie das Produkt einer kranken Bindung ist. In ihr scheint sich die gespens-tische deutsche Stille, die Motti zuerst genießt und dann hasst, das Abgestorbene des fremden Landes, das Phlegma der Mutter fortzusetzen.
Die Tochter ist ein Roman, in dem es um die Dynamik neurotischer Bindungen geht, die nichts als Leid produzieren. Und es ist Geschichte eines Juden, der nach Deutschland kommt, ein Fremder bleibt und daran zerbricht.
Lesung mit Maxim Biller (Einführung: Klaus Sieg), heute, 20 Uhr, Literaturhaus
Maxim Biller, Die Tochter. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln: 2000. 448 Seiten. 34 DM.
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