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„Die Leute sind sehr realistisch“

Schritt für Schritt zur Lockerung: Die Journalistin und Frauenrechtlerin Parvin Ardalan über die Hoffnung der Jugend auf Veränderung im Iran und die politische Presse als Triebkraft der Reformdebatte

taz: Frau Ardalan, wie hat sich die Situation im Iran in den letzten Monaten geändert?

Parvin Ardalan: Die Presse ist freier geworden. Heute können die Zeitungen über Dinge berichten, die früher unmöglich waren. Das liegt daran, dass sich im Informationsministerium vieles geändert hat. Aber die Morde an Intellektuellen 1998 etwa werden immer noch nicht aufgeklärt. Alle wollen wissen, wer dahinter steckt. Aber das wird nicht offen ausgesprochen.

Wie sehen Sie die Chancen für eine weitere Demokratisierung?

Das hängt von der Bevölkerung ab. Der Staat will die Kontrolle über die Menschen behalten. Aber die Menschen wollen mehr Freiheit, vor allem die jungen Leute. Unsere Bevölkerung hat sich seit der Revolution 1979 verdoppelt. Wir haben jetzt 30 Millionen junge Menschen, und sie unterstützen alles, was auch nur die Hoffnung auf Veränderung weckt. Das Wichtigste ist, dass wir angefangen haben, unsere Kritik auszusprechen.

Vertrauen Sie der Politik von Präsident Chatami?

Er ist einer von mehreren im Staatsapparat, die Veränderungen wollen. Aber heute ist es nicht entscheidend, ob Chatami Reformen will oder nicht – entscheidend ist die Bevölkerung. In den letzten Jahren haben die Menschen gelernt, nie einer einzigen Person zu vertrauen. In unserem Bewusstsein haben sämtliche Autoritäten abgewirtschaftet. Die Leute sind sehr realistisch – sie glauben nicht, dass Chatami die einzige Person ist, die Veränderungen durchsetzen kann.

Wie würden die Iraner reagieren, wenn Chatami scheitert?

Die Bewegung hat begonnen, sie lässt sich nicht mehr stoppen. Das haben die Studentenproteste im letzten Jahr gezeigt. Das war eine sehr gefährliche Situation für den Staat. Sie hat gezeigt, dass die Staatsführung auf die Forderungen der Studenten eingehen muss, wenn sie weiterregieren will. Ich glaube, die Verantwortlichen haben das begriffen. Wenn sie an der Macht bleiben wollen, müssen sie viel verändern, sonst wird es sehr gefährlich für sie.

Welche Rolle spielt die Presse in diesem Zusammenhang?

In den letzten Monaten haben die Zeitungen so agiert wie anderswo politische Parteien. Weil es bei uns keine politischen Parteien gibt, wird versucht, über die Zeitungen die Probleme zu thematisieren.

Wie mächtig ist die Presse denn? Viele Zeitungen wurden gegründet und bald wieder verboten. Viele Journalisten sind verhaftet worden.

Ja, aber die Menschen wissen: Wenn eine Zeitung verboten wird, erscheint sie sofort wieder unter neuem Namen. Für die Presse ist das ein Experiment. Sie versucht im Rahmen der Gesetze zu existieren. Als Journalist hat man aber keinerlei politische und wirtschaftliche Sicherheiten. Zudem kann das Pressegesetz leicht gegen uns eingesetzt werden. Aber wir versuchen es auszureizen – eine wichtige Erfahrung für uns. Der zweite Schritt ist dann, sich für Gesetzesänderungen einzusetzen. Wir gehen Schritt für Schritt vor.

Interview: THOMAS DREGER

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