: Verkehr: Im Viertel herrscht Anarchie
■ Mit der Verkehrssituation im Viertel ist vier Jahre nach der „Kompromisslösung“ niemand so richtig zufrieden / Es herrscht einfach das Recht des Stärkeren auf Sielwall und O-Weg
Im Viertel herrscht die Anarchie auf den Straßen. Das sagt der Leiter des Ortsamts Mitte, Robert Bücking, rund vier Jahre nach dem „Kompromiss“, durch den die von Ex-Bausenator Bernt Schulte (CDU) gekippten Pläne zur Verkehrsberuhigung der Straßen Ostertorsteinweg und Vor dem Steintor ersetzt worden waren. Die Zahl der Fahrzeuge habe sich zwar ungefähr halbiert, dafür gelte jetzt das „Recht des Stärkeren“, so Bücking. Leidtragende sind vor allem Fahrradfahrer, Kinder und ältere Menschen. Doch auch die traditionell Auto-freundlichen Geschäftsleute meckern. So richtig zufrieden ist niemand mit dem Viertel-Verkehr.
Zur Erinnerung: 1996 war die auf ein halbes Jahr angelegte umfassende Beruhigung der Verkehrsachse nach nur vier Wochen aufgehoben worden. Der Straßenzug wurde wieder geöffnet, dafür wurden Fußgängerwege verbreitert, Parkbuchten eingerichtet und Abbiegegebote an der Sielwall-Kreuzung ausgeflaggt. Der Durchgangsverkehr sollte „zuverlässig“ draußen gehalten werden. Das scheint halbwegs geglückt zu sein, wenn auch in der Tempo-30-Zone weiterhin zu schnell gefahren wird.
Eine kleine Anfrage der Grünen beim Senat brachte hinsichtlich der Verkehrsbelastung im Ostertorsteinweg jetzt folgendes Ergebnis: Während im Oktober 1995 in vier Stunden 2.170 Fahrzeugen registriert wurden, notierten die Verkehrszähler im Juni 1996 nur noch 1.220 Automobile – aktuellere Zahlen gibt es nicht. An dem neuen Abbiegegebot kann der Rückgang übrigens nicht gelegen haben: daran halten sich nur die wenigsten, und die Polizei guckt hinterher.
Ohne „irgendwelche Behinderungen“ sei eine solche Verringerung des Durchgangsverkehrs nicht zu schaffen, so Brigitte Pieper, Referatsleiterin im zuständigen Bauressort, „man kann nicht alles haben im Leben“. Sie selbst macht auf dem Rad einen großen Bogen um den enger gewordenen, hindernisreichen und gepflasterten Straßenzug, auf dem sich Autos, Straßenbahnen, Radfahrer und Fußgänger drängeln. Für eine unfreiwillige Verkehrsberuhigung sorgen zudem Falschparker: 1999 mußten die Straßenbahnen im Durchschnitt eine Viertelstunde warten – und das mehr als 100-mal. Eine Ursache sind, da sind sich Ortsansässige sicher, die zu engen Parkbuchten. Nachmittags stehen die Trams überdies bis zu acht Minuten im ganz normalen Stau. Von den ursprünglich drei „Überwachungskräften“, die auf die Jagd nach den Falschparkern gehen sollten, sind nur noch zwei geblieben.
Norbert Caesar, Vorsitzender der IG „Das Viertel“, setzt da ganz andere Akzente: Er und andere Geschäftsleute vermissen Parkplätze für ihre Kundschaft. „Der Kunde als solcher“ sei schwer erziehbar und wolle in vielen Fällen das Auto „in Armeslänge“ abstellen können. Caesar wünscht sich außerdem eine bessere Beschilderung, die auf die umliegenden Parkhäuser hinweist. Diese sind laut Senat zum Teil nur zu 25 Prozent ausgelastet. Auch müsse man zu Tabubrüchen bereit sein, meint der Einzelhändler: Etwa, indem man die Mozartstraße als Zuwegung zur Tiefgarage Ostertor/Kulturmeile nutzt.
Das Fazit gebührt Ortsamtsleiter Bücking: Die 1996er Kompromisslösung funktioniere „recht und schlecht“. Ein Horrorszenario wäre für ihn jedoch, wenn die Straßenbahn mehr Platz bekäme: „Dann geht hier die Welt unter.“ hase
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen