: Sprengstoff und Schokolade
Standort Deutschland (X): 1939 wurde das hessische Stadtallendorf zu einem Rüstungsschwerpunkt der NS-Kriegspolitik. Heute gibt es hier unsprengbare Bunker und eine türkische Gemeinde, die sich inzwischen fremd zwischen zwei Kulturen fühlt
von SUSANNE MESSMER
Super, aber deshalb extra hinfahren? Als ich ihr zum ersten Mal erzähle, dass ich über Stadtallendorf schreiben will, reagiert Aysel begeistert und miesepetrig zugleich. Aysel besucht seit Jahren nur noch selten ihre Eltern. Nach dem Abitur hat sie sich einen so fernen Studienplatz ausgesucht, dass sie ausziehen konnte. Ihre Eltern haben sich bei der einzigen Studierten der Familie nur gemeldet, wenn wieder Papierkrieg oder ein Ämtergang anstand. Nun hat sie ihr Studium fast geschafft und in diesem Sommer ihren deutschen Freund geheiratet, der einen chinesischen Vater hat. Dass er, praktizierender Katholik, deshalb zum Islam konvertiert ist und jetzt außer Jochen und Wang auch noch Mehmet heißt, hat wenig geholfen. Ihre Mutter will nichts mehr mit ihr zu tun haben und würde ganz einschnappen, wenn sie erführe, dass Aysel den ersten Enkelsohn erwartet. Stadtallendorf war für Aysel eine Falle. Als ich ihr erzähle, dass nur 23 Prozent der Einwohner Ausländer sind, kommt ihr das viel zu wenig vor – sie empfindet die Stadt als Ghetto, dem sie entkommen ist.
Auch bei den Recherchen in der zwischen Marburg, Kassel und Bad Hersfeld gelegenen 22.000-Einwohner-Stadt stoße ich auf Misstrauen: Die meisten meiner Gesprächspartner denken, ich wolle über das leidige Thema der Altlastensanierung schreiben. Zum „türkischen Thema“ kann mir nicht mal die ortsansässige Zeitung etwas sagen. Wenn jemand außerhalb Hessens schon einmal von Stadtallendorf gehört hat, dann, dass diese Stadt auf Sprengstoff gebaut ist. 1939 leierte das deutsche Heer über ihre Montanindustrie GmbH und die Kriegsmarine an, dass aus Stadtallendorf einer der größten Rüstungsschwerpunkte des Reichs wurde.
Stadtallendorf, die bewohnte Altlast, hat heute die größte Bonsaisammlung Deutschlands. Es gibt kaum Bäume, deren Alter ihrer Höhe entspricht, weil die Wurzeln schnell auf Beton stoßen. Es gibt nach wie vor unsprengbare Bunker, und viele Wohnhäuser haben Grasdächer. Noch vor zehn Jahren filterten die Wasserwerke jährlich ein Kilo TNT aus dem Trinkwasser.
Überraschend muss Aysels Mutter ins Krankenhaus, und ihre Geschwister schaffen es nicht, die Diagnose herauszubekommen. Also kommt Aysel nun doch: Auf dem Weg vom Bahnhof laufen wir durch die düstere Fußgängerzone des irgendwann in den Siebzigern aus dem Boden gestampften Stadtzentrums, ziegelrot mit kackbraunen Einfassungen, vorbei an Ihr Platz und Bistrorant Divan. Die Lautsprecher vor der Eisdiele beschallen alles wie vor fünfzehn Jahren. Wir laufen vorbei an türkischen Gemüsehändlern und Reisebüros und landen in Aysels Straße. Die Özmens wohnten damals zu sechst in einer Zweizimmerwohnung in diesem sozialen Wohnungsbau aus den Fünfzigern, mit Ölöfen und Dusche im Keller.
Der Vater wirkt heute verloren in dieser winzigen Wohnung: Zwei von Aysels Geschwistern sind ein Stockwerk höher gezogen, ihre mittlere Schwester Leyla lebt seit ihrer Scheidung etwas einsam in einer eigenen Wohnung und taucht nur selten auf. Herr Özmen hat Kochen gelernt. Den türkischen Tee bereitet er zu Aysels Entsetzen seit Neuestem mit praktischen Teebeuteln. Seit einigen Monaten schon ist er arbeitsunfähig, die Stadtallendorfer Volkskrankheit macht ihn fertig: Staublunge und Bandscheibenvorfall hat hier fast jeder männliche Türke. Denn alle haben in der Eisengießerei Winter gearbeitet, dem zweitgrößten Arbeitgeber vor Ort: in der „Leichenhalle“, so heißt es, wo die meisten unter viel Lärm, Hitze, Staub und unter großem Unfallrisiko in der Formerei, Kernmacherei und Gussputzerei Sand stampften, heißes Eisen gossen und Motorblocks abschliffen. Herr Özmen gehört zu den ersten in der Türkei angeworbenen Arbeitern, die einer höheren sozialen Schicht angehörten und aus dem äußersten Westen der Türkei kamen. Er hat immerhin acht Jahre Schule absolviert und in Istanbul den Beruf des Glasbläsers erlernt, bevor er nach Deutschland kam. Den Özmens geht es wie vielen älteren „Gastarbeitern“ in der Stadt. Während sie früher brutal sparsam lebten und spätestens im nächsten Jahr in die Türkei zurückgehen wollten, fühlen sich viele Migranten in ihrer früheren Heimat zunehmend als die „Deutschländer“, als die sie dort bezeichnet werden. Nicht Fisch noch Fleisch zu sein ist ein Problem, mit dem mittlerweile auch sie zu kämpfen haben. Viele begreifen erst jetzt ihre Kinder, denen es schon immer so gegangen ist.
Hatice, die jüngste der Özmens, trägt langes, stark blondiertes Haar und ist geschminkt wie Kleopatra. Der letzte Türkeiurlaub ist noch frisch, sie hatte Erfolg mit den Verehrern, einer hat in einer Woche tausend Mark für sie ausgegeben. „Weißte“, sagt sie, „ich weiß genau, ich werde wie eine dumme, türkische Hausfrau enden, aber ich kann’s trotzdem nicht lassen“, lacht sie. Herr Özmen hört nicht hin, wie immer, wenn seine Töchter deutsch miteinander reden. Später gibt es noch gewichtige Termine. Mit Verspätung trudeln wir bei Manfred Vollmer, langjähriger CDU-Bürgermeister ein. Gerade mit stolzen 63,7 Prozent wieder gewählt und bester Laune, bittet er uns in sein Zimmer. Auf Aysel reagiert er erst, als ich ihn nach den Integrationsbemühungen seiner Politik befrage. „Wie Sie wissen, ist es mit der Emanzipation in der türkischen Kultur nicht weit her“, sagt er, Aysel fixierend, und: „Wenn hier türkische Mitbewohnerinnen das Stadtbad an einem Tag in der Woche nur für Damen geöffnet haben wollen, da mache ich nicht mit.“ Dass das eine das andere braucht, um sich identisch zu fühlen, Kopftuchtragen in Deutschland etwas ganz anderes heißt als in der Türkei, davon will Herr Vollmer nichts wissen.
Bei Herbert Köller sind die Fronten klar. Er ist Zahnarzt und zweiter Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins in Stadtallendorf. Beim Gespräch in seiner Praxis warnt er: „Ich gehöre in das Lager, das Sie revanchistisch nennen würden.“ Sein Verein hat sich der Integration der so genannten Heimatvertriebenen gewidmet. Heute zeigt er mir zwei Stunden lang von seinem dicken Benz aus „sein“ Stadtallendorf. Die katholische Dorfkirche, wo er als Flüchtlingskind die ersten protestantischen Gottesdienste Stadtallendorfs erlebte, die zu Wohnhäusern umfunktionierte Steinbarackensiedlung, wo heute gedrechselte Holzverkleidungen verdecken sollen, was einmal für den „Reichsarbeitsdienst“ bestimmt war. Herr Köller wird nicht müde, den Pioniergeist der Heimatvertriebenen zu schildern, die in der „größten Einsiedlergemeinde Hessens“ schnell Fuß fassten, dank des „florierenden Gemeinschaftswesens“, das sie aus ihrer Heimat mitbrachten. Immer wieder betont er die Geduld und das Verständnis der Stadtallendorfer für die Notwendigkeit der Sanierungen heute. „Sie müssen sich vorstellen, was das gerade für diese Leute bedeutet, dass auf einmal das Haus, ihr ganzer Besitz, nichts mehr wert sein soll.“
Stadtallendorf besteht aus vielen Puzzleteilchen, die sich ziemlich knirschend ineinander verkeilt haben. Da ist das alte Dorf, das katholische Kuhkaff, das es vor dem Zweiten Weltkrieg war, mit gerade mal 1.500 Einwohnern. Da ist das riesige Kasernengelände aus der Zeit als gigantische Garnisonsstadt, die es 1959 wurde: Die Stadtallendorfer Stadtverwaltung, erzählt man sich, ist durchsetzt mit hängen gebliebenen Soldaten, mit so genannten „Zwölfendern“, die sich noch heute am Telefon mit „Ende“ verabschieden. Und da ist neuerdings die „Wodkasiedlung“, ein monochrom cremefarbenes Neubaugebiet. Hier leben fast nur Russlanddeutsche. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele wählen DVU. Die Vorstellung, Blutrecht über Staatsbürgerrecht zu stellen, fällt auf fetten Boden: Die Leute hier mögen ihre türkischen Nachbarn nicht, es gibt viel mehr Schlägereien als früher.
Beispielhaft steht die Stadt aber auch für jenes deutsche Wirtschaftswunder, das, nimmt man es etwas genauer, gar nicht so wunderbar war. In den Sechzigern, als der „Pulsschlag der Arbeit und des unermüdlichen Fleißes“ regierte, blühte Stadtallendorf schnell wieder auf. Trotz der Demontage waren genug Straßen, Gleise, Abwassersysteme und brachliegende Fabrikgebäude übrig geblieben. Es ist kein Zufall, dass sich hier eisenverarbeitende Industrie ansiedelte: Irgendetwas musste man mit den leeren Sprengstoffkörpern ja anfangen. Während der Nachfolger der „Montan“, eine Firmengruppe mit dem unscheinbaren Namen „Industrie-Verwaltungsgesellschaft“ (IVG), nach Bonn zog und auf altlastverdächtigen Rüstungsstandorten atomare Zwischenlager einrichtete, zog nach Stadtallendorf der italienische Schokoladenhersteller Ferrero, der 1964 auf dem ehemaligen Montan-Kohlenlagerplatz die Produktion aufnahm: Hanuta, Nutella, Rocher und Raffaelo, Küsschen, Kinderüberraschung und wie sie alle heißen.
Ferrero ist der größte Arbeitgeber Stadtallendorfs. Die Einstellungspolitik der Firma ist in der Stadt berüchtigt. Jeder Stadtallendorfer kennt die Villa Pierra mit Kantine, Schlafsälen und Duschräumen, in der sich sardinische Saisonarbeiterinnen für viel Geld einmieten können, aber auch rigide kontrolliert werden. Diese Arbeiterinnen werden sogar von türkischen Fließbandarbeiterinnen bedauert: Es heißt, sie seien leichter kündbar, dürften, wenn sie im nächsten Jahr wiederkommen wollen, nicht krank werden und seien insgesamt billiger und pflegeleichter. Hier scheinen die Thesen des Marburger Historikers Wolfgang Form zu greifen: „Durch den Einsatz von Zwangsarbeitern entwickelte sich ein Know-how und ein Taylorismus, ohne den das Wirtschaftswunder in den Fünfzigerjahren nicht denkbar gewesen wäre“, sagt er im Gespräch und erinnert daran, dass der Mangel an Facharbeitern schon während des Kriegs zu einem hohen Grad an Arbeitsteilung zwang.
Während des Zweiten Weltkriegs haben 17.000 ausländische Arbeitskräfte aus über zwanzig Nationen in Stadtallendorf Sprengstoff hergestellt und in Sprengstoffkörper gefüllt, sich krank oder zu Tode geschuftet, darunter 6.500 Kriegsgefangene und 600 Strafgefangene. Ins Lager Münchmühle, das vom KZ Buchenwald verwaltet wurde, wurden im August 1944 tausend ungarische Jüdinnen aus Auschwitz verschleppt, um bis zu ihrer Befreiung 1945 in Stadtallendorf TNT zu verfüllen – eine Tatsache, die erst 1980 durch die Arbeit einer Schülergruppe bekannt geworden ist.
Später gehen Aysel und ich noch im Kleinistanbul Stadtallendorfs einkaufen, der Adalbert-Schweitzer-Straße. Hier sieht man selten Deutsche. Neben einer der beiden Moscheen gibt es Metzger, Bäcker, viele Gemüsehändler und Spielsalons, die noch mehr florieren, seit das einzige Kino dicht gemacht hat. Ich denke an einen Satz des Stadtallendorfer Rappers Bruda Sven, der seine CD „Patentierte Zungenakrobatik“ beim Rödelheimer 3p-Label von Moses Pelham herausgebracht hat. „Wir fühlen uns in Stadtallendorf wohl und haben unsere eigene kleine Welt.“ In einem seiner Lieder heißt es: „Ein Leben unter Heiden kann ich nicht leiden.“ Aysel wird überall erkannt. Sie kauft Lammfleisch, Paprika und türkischen Wabenhonig. Den isst man, wie er ist, mit den Waben, als Süßigkeit.
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