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Dr. med. Bier

Sieben kleine Hefte voll schauriger Zukunft: Das Berliner Science-Fiction-Projekt „Der Countdown läuft“ wurde in der alten Hörsaal-Ruine der Charité vorgestellt

Nachts um die schwach erleuchteten Gebäude der Charité schleichen, das hat schon was. Eine Schnitzeljagd: Der Pförtner gibt einem nur eine schwer zu entziffernde Skizze, auf der der Weg zur Hörsaal-Ruine eingezeichnet ist. In der Ruine flackern kleine Kerzen, davor sitzen im Halbkreis literaturinteressierte Menschen und schwer arbeitende Funk-Print-Fernsehen-Presseleute.

Die Lesung trägt den Titel „Der Countdown läuft – Sieben Hefte mit Zukunft“. Aus vier der sieben Hefte werden ihre VerfasserInnen Kostproben lesen, ihre persönlichen Zukuftsvisionen, erdacht im Auftrag der Literaturwerkstatt. Der Eichborn Verlag hat die Science-Fiction-Geschichten soeben herausgebracht, jeder Text mit etwa siebzig Seiten, jedeR AutorIn mit einem anderen Druckbild.

Tobias O. Meißner liest als erstes. Er erzählt von einem Art Super-Highspeed-Virtual-Reality-Wrestling-Spiel und hat sich hübsche, zukünftige, aus dem Englischen gemopste Fremdwörter dazu ausgedacht. Die Fotografen und der Kameramann können sich gar nicht satt sehen: der Autor, schmächtig und bezopft, vor den nackten Hörsaalmauern. Die flackernden Kerzen auf den abgerissenen Rundbögen. Die rund 100 im Dunkeln sinnierenden Zuhörer auf ihren Stühlen. Das große Braunweißfoto des Hörsaals vor rund hundert Jahren, das über der kleinen Lesebühne hängt. Wenn es das Wort Atmosphäre noch nicht geben würde, dann hätte es einer der Pressemenschen heute Abend erfunden.

Danach darf Zoran Drvenkar, und er hat leider vom Verlag den doofsten Schrifttyp zugeteilt bekommen: „Wenn ich komische Sätze sage“, meint er, „ist das, weil man die Punkte und Kommata in dieser Schrift kaum unterscheiden kann . . .“ Macht aber dann gar nichts, seine beeindruckende Geschichte „Die alte Stadt“, in der die weibliche, kindliche Ich-Erzählerin mit ihrem kleinen Bruder in ehemaligen U-Bahn-Tunneln lebt, wird von den draußen vorbeiratternden Zügen wie bestellt untermalt. Schaurig.

In der Pause wird es noch einen Zacken schauriger: Man kann sich die Ausstellung pathologischer Exponate der Charité angucken, „sirenoide“ Missgeburten, die statt Beinen Fischschwänze tragen, Zyklopen-Babys und siamesische Zwillinge. Dazu das Operationsbesteck des „Dr. med. Bier“ und seine dicke Spritze „Record“. Den Zuschauern bleiben die Häppchen im Hals stecken.

Michael Wildenhain eröffnet die zweite Hälfte und erzählt von Wieland Schmidt, der irgendwann in der Zukunft „einmal zu viel transplantiert hat“ und unter die 50-Prozent-Mensch-Substanz gerutscht ist. Er muss in einen Computer flüchten, und dort spielt denn auch die Geschichte. Wildenhains Sprache ist einzigartig und fesselnd. Und wieder passt die Umgebung zum Schauplatz – kann man diese Hefte eigentlich auch je irgendwo anders lesen? JENNI ZYLKA

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