Zirkus von der Stange

Maria Stauberti zieht seit 54 Jahren als Artistin über Land und hat ihre Kinder angelernt  ■ Von Sylvia Massow

Für viele Menschen ist es ein Traum – für die 62-jährige Maria Stauberti und ihre Kinder Enrica und Dimitr ist es Routine: Die Staubertis sind eine Artistenfamilie und reisen in jedem Jahr mit einem anderen Zirkus durchs Land. In dieser Saison sind sie beim Zirkus Charles Knie engagiert: Ihren Wohnwagen stellen sie in 50 deutschen Städten auf.

Bereits im Alter von sechs Jahren trat Maria Stauberti mit ihren Eltern und ihrem Bruder in der so genannten Perche-Nummer auf. Bei ihren Vorstellungen setzte sich der Vater eine vier bis sechs Meter lange Stange, die Perchestange, auf Stirn oder Schulter und balancierte seine kleine Tochter darauf durch die Manege. „Später stellte ich fest, dass es an Unterfrauen mangelte“, erinnert sich die Artistin. Daher hat sie mit 23 Jahren begonnen, selber die Stange auf der Stirn zu tragen. Angefangen hat sie noch mit zehn Kilo Gewicht, doch sie trainierte so lange, bis sie – als einzige Frau in Europa, wie sie sagt – zwei Frauen gleichzeitig oder ihren eigenen Ehemann stemmen konnte. Erst mit 58 Jahren beendete sie ihre aktive Zirkuskarriere. „Probleme mit den Knien“, sagt sie bedauernd. „Aber wer hat die mit 58 Jahren nicht?“

Seither bildet Maria Stauberti junge ArtistInnen in verschiedenen Disziplinen aus: Ihrer 35-jährigen Tochter hat sie das Jonglieren beigebracht, ihr gezeigt, was sie als Oberfrau in der Perche-Nummer tun muss und hat mit ihr die Zopfhang-Nummer einstudiert. Dabei lässt Enrica sich an den Haaren aufhängen und schwebt jonglierend durch das Zirkuszelt. Die junge Artistin versichert, dass kein Trick dabei sei. „Ich muss meine Haare nur mit einer bestimmten Technik so knoten, dass sie nicht reißen.“ Zu Beginn einer Saison komme es aber schon manchmal vor, dass ihre Kopfhaut schmerzt.

Im Gegensatz zu seiner Schwes-ter wollte der 20-jährige Dimitr lange Zeit „ein privates Leben führen“. Erst als er sah, dass auch alle seine Freunde eine Zirkuskarriere anstrebten, begann er mit seiner Mutter zu trainieren. Inzwischen führt er die Familien-Tradition fort: Er trägt seine Schwester auf der Perchestange über eine Leiter oder fährt gleichzeitig auf dem Hochrad.

Angst vor Unfällen haben die Staubertis nicht. „Wir haben doch alles gelernt“, erklärt Maria Stauberti ihre Furchtlosigkeit. Nur – typisch Mutter – wenn sie mit ihren eigenen Kindern trainiere, gesteht sie, mache sie sich Sorgen um sie. Ob die kleine Nancy, Enricas vierjährige Tochter, die Artistentradition in der achten Generation fortsetzen und sich auch von der Großmutter ausbilden lassen will – das weiß Maria noch nicht.

Nach der neun Monate dauernden Saison freuen sich die Artisten auf ihr Zuhause in Prag. „Da haben wir endlich wieder eine richtige Küche, große Betten – und eine Badewanne“, schwärmt Enrica und wirft der engen Duschkabine im Wohnwagen einen verächtlichen Blick zu. Doch nach drei Monaten Winterpause, mit ein paar Gala-Auftritten zwischendurch, wird es der Zirkusfamilie daheim zu eng. „Dann freuen wir uns auf unsere Wagen und ein neues Land“, beschreibt Maria Stauberti ihren Drang in die weite Welt. Wohin es gehen soll: China würde sie gern noch kennenlernen – natürlich mit dem Zirkus.

Bis zum 3. Mai gastiert der Zirkus Charles Knie in Hamburg auf der Kleinen Moorweide. Vorstellungen täglich um 15.30 und 19.30 Uhr. Karten kosten 12 bis 36 Mark.