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Zwischen Dior und DDR

Oskar Roehlers Melodram „Die Unberührbare“ schildert die letzten Tage seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner. Sein Film ist die Würdigung einer linken Exzentrikerin

von ELKE SCHMITTER

Eine Wiederauferstehung beschäftigt in diesen Tagen die Medienrepublik: die Schriftstellerin Gisela Elsner, verstorben im Jahr 1992 und vergessen schon lange zuvor, erlebt auf der Leinwand noch einmal ihre letzten Lebenstage, so wie der Regisseur es will. Es ist der Sohn der Autorin, der sich eine Handlung ausgedacht hat, die Motive ihres Lebens aufreiht und verdichtet – in einem Film, der eine andere Wahrheit als die dokumentarische sucht. Er ist auf etwas Eigentliches aus, in einem offensiv anderen Sinne als Gisela Elsner: Er leistet sich den Luxus der Privatheit und des Einzigartigen.

Über Gisela Elsner ist viel geschrieben worden, als sie am Anfang einer Karriere stand, die alles zu versprechen schien: Sie war begabt und klug, sie war exzentrisch und attraktiv, sie kam aus der Bourgeoisie, und sie war eine radikale Linke. Was hätte man sich mehr wünschen können, in jenen 60er-Jahren, da ihr erster Roman „Die Riesenzwerge“, erschien und sie gleich, von Enzensberger gefördert, an die Spitze geriet, der Wahrnehmung und des Wohlwollens, der literarischen Achtung und der sentimentalen Schwärmerei? Elsner bekam den Prix Formentor, den man heute nicht mehr kennt, der aber damals so hoch dotiert war, dass es für ein Eigenheim gereicht hätte. Aber ein Eigenheim war wohl das Letzte, was Gisela Elsner wollte.

Sie wollte, so legt ihr Lebenslauf nahe, schreiben und leben: Sie ging nach London und Paris, wohnte zwischenzeitlich in Hamburg, nahm an den Tagungen der Gruppe 47 teil und wurde Mitglied des PEN, der sich damals noch als ein ganz wilder Haufen verstand. Als Sympathisantin der DKP erlaubte sie sich, der allgemeinen Euphorie für „mehr Demokratie“ à la SPD zu widersprechen; zwischen Willy Brandt und Ludwig Erhard sah sie keine Alternative: „Den Unterschied zwischen gleich und gleich herauszuarbeiten, nenne ich: Billardkugeln einwecken.“ Ihre Prosa war anstrengend und auch nicht ohne Anstrengung geschrieben: Da waltete ein strenger Wille zur Vivisektion, von keinem Mitgefühl für ihre Geschöpfe getrübt. „Die Riesenzwerge“, ihr bleibender, größter Erfolg, in 14 Sprachen übersetzt, ist trocken wie ein Kursbuch und arbeitet mit Mitteln der Groteske; die Stimmung ist düster und das Verhängnis unentrinnbar.

Bittere Komik wurde ihr bescheinigt sowie eine Nähe zu Kafka, parabolische Qualitäten und eine virtuose Handhabung bestimmter Techniken des Nouveau Roman wie Wiederholung und Spiegelung, kurz: eine programmatische Prosa auf hohem Niveau. Zweifellos beherrschte sie hervorragend, wonach die intellektuelle Elite damals verlangte: Entschleierung der Ideologie des allzeit zufriedenen Bürgertums, Entlarvung des Banalen als das eigentlich Monströse, Negation der Psychologie (eine bourgeoise Erfindung) zugunsten einer Art literarischer Soziologie mit typisierten Figuren ohne Biografie, mit karikierenden Namen (wie Dittchen, Stößel, Keitel, Stief) und Abläufen rein äußerlicher, vorhersehbarer Dramatik. In ihren Sujets war sie weit einfallsreicher als ihre Kollegen vom Klassenkampfseminar: Emanzipierte neurotische Frauen („Die Zähmung“) bekommen ebenso ihr Fett weg wie moderne Unternehmer, die vom humanen Kapitalismus faseln („Der Punktsieg“), progressive Dichter und linke Architekten schont sie nicht, ebenso wenig wie jene Mittelstandsvertreter, die einzig von der sexuellen Revolution zu profitieren wünschen („Berührungsverbot“) und dabei, wie aus Versehen, ihre Ehen ruinieren, das heißt: deren Ruinen sichtbar machen.

Man sieht: Da war nicht viel zu machen. Ihr Trotz war kalt, radikallinker Aspik. Jenseits der zärtlichen Innenaufnahmen des Bürgertums, wie Martin Walser sie gab, und existenziell weit entfernt von Selbsterfahrungsliteratur wie „Häutungen“, „Wie kommt das Salz ins Meer“, „Die Mutter“.

Anfang der Siebziger noch ganz auf der Höhe des kritischen Zeitgeistes, aber schon mit dem Verdacht belegt, ihren literarischen Erfolg vor allem durch Libertinage & Schönheit begründet zu haben, geriet Gisela Elsner durch ihre Themenwahl, mehr noch aber durch ihr dekonstruktivistisches ästhetisches Programm in jenes „Abseits“, dem sie einen Roman widmete (der an ihre Schwester erinnert): der Niedergang einer tablettensüchtigen Frau, isoliert in ihrer kleinbürgerlichen Existenz, durch eine Affäre in die Scheidung getrieben, und dann nimmt sie Zyankali ... Das Spiel mit Motiven aus „Madame Bovary“ führte zu wütenden, nachgerade erbitterten Verrissen.

Mit der Nachsicht der Heutigen liest sich mancher Roman, der damals zum jeweils neu endgültigen Niedergang der Schriftstellerin herbeizitiert wurde, keineswegs schlechter als einiges von Ludwig Fels und anderen links engagierten Autoren, in seiner selbstbewussten stilistischen Verbohrtheit nicht weniger reizvoll oder reizlos als vieles von Elfriede Jelinek. Aber sie war passé: Rowohlt verlegte sie nicht mehr. Ende der 80er-Jahre erschienen noch Essays von ihr beim Zsolnay Verlag in Wien: Erwägungen zu Kleist und Kafka, zu „Penthouse“ und der Trivialautorin Marie-Luise Fischer, aber auch eine Rezension der Regierungserklärungen aller Kanzler der Bundesrepublik – Aufsätze, in denen eine meisterliche Unerbittlichkeit und eine leuchtende intellektuelle Klugheit sich irritierend abwechseln mit retardierenden, mühsam wirkenden Sätzen, die eher Gesten als Gedanken sind. Verdichtung und Abdichtung scheinen gleichermaßen am Werk: Da will eine hier nicht zu Hause sein, und der letzte Genuss der Existenz, soweit es das Bewusstsein betrifft, ist die fortwährende Entlarvung des Hier & Jetzt, in eben jenen Strukturen, die wir alle kennen, aber immer nur beim anderen identifizieren: die da, die da ... Der DDR, deren Wirklichkeit in ihren Essays nicht auftaucht, soll sie ihre höchste, fiktive Treue gehalten haben.

Und mit dem Treubruch der DDR beginnt Oskar Roehlers Film: Hannelore Elsner sitzt vor dem Fernseher, in dem die Bilder vom 9. November nimmermüde sich wiederholen. Männer, die Männern die Hand reichen, um die Mauer zu erklimmen und zu überwinden; Trabis, die im Schritttempo nach Westberlin einfahren; begeisterte Gesichter. Eine historische Feier, bei der die Linke Gisela Elsner den allerschlimmsten Verdacht hat, aus der allergrößten Verachtung genährt: Die kommen ja nur, um sich „Westtampons in ihre Fotzen zu stecken“, sie wollen Sekt trinken und Jeans kaufen, und dabei faseln sie von Freiheit. Die Antriebskraft ihres Schreibens, der systemische Verdacht bestätigt sich auf das Schrecklichste: denn auch hier waltet im Größten nur das Niedrigste, und die Verführung der Rhetorik, die zu entlarven ihr Lebenswerk war, hat endgültig gesiegt.

Aber das sagt sie nicht mehr. Sie ruft nur einen Freund an, die Zigarette in der Linken, den Hörer in der Rechten, das Glas vor sich auf dem Tisch, und sagt: Ich bringe mich jetzt um.

„Ist das Zyankali noch gut?“, will der Freund am Ende der Leitung wissen. Mit dieser Frage ist der Ton des Films bestimmt: denn er fragt nicht zynisch, sondern teilnehmend; nüchtern, aber nicht ohne Mitgefühl. Es wird nicht das erste Mal gewesen sein, dass sie davon spricht, und das Antlitz der einfach grandiosen Hannelore Elsner, ihr schwankender Gang durch eine noch immer anspruchsvolle Wohnung (Glastisch und Ledercouch, was man damals so hatte, wenn man auf sich hielt, aber ein Lenin hängt an der weißen Wand), ihre nervösen Hände, das strohige Haar legen Zeugnis ab von einer jahrelangen Verrichtung gegen sich selbst und die Wirklichkeit: So spricht und geht nur eine, die längst schon nicht mehr weiterweiß, die nur noch zu sich selbst kommen kann im Rausch und in der Demütigung des Erwachens, in diesem Kreislauf von Erniedrigung und Euphorie, der unerreichbar einsam macht.

Sie nimmt das Zyankali erst mal nicht; sie raucht noch eine mit dem Freund am Telefon. Sie macht sich noch einmal auf: lässt ihre Sachen packen, kauft einen Mantel von Dior, löst ihre Wohnung auf und fährt nach Berlin. Dort wartet eine alte Liebe, wie sie hofft, der Cheflektor von „Volk & Welt“, für den setzt sie ihre Perücke auf, steigt im „Excelsior“ ab wie in den verblichenen, besseren Zeiten und geht als Dame rüber: eine groteske Erscheinung wie aus einem ihrer Romane; erstarrt und unglücklich, verpanzert und sinnlos klug – und unendlich rührend; eine Verletzung, auch des Gewöhnlichen. Sie irrt durch diese aufgebrochene Stadt, durch die besoffene Euphorie jener, die ihre fiktiven Genossen waren und die jetzt zu Karstadt wollen, weil sie Dior nicht einmal kennen. Sie ist beleidigt, gekränkt und verwirrt, aber sie hält sich tapfer, und sie ist freundlich, solange sie kann: Das dauert nicht lange. Auf ihrer Reise zurück nach München, in die abgelebte Heimat, steigt sie bei ihren Eltern ab, bettelt vergeblich um Hilfe, begegnet ihrem geschiedenen Mann, fährt mit ihm nach Darmstadt, flieht auch von dort, kommt schließlich am Odeonsplatz zu Fall, betrunken, kraftlos, mit der unbewussten Entschlossenheit derer, die sich noch einmal helfen lassen wollen.

Aber ihr war auf Erden nicht mehr zu helfen, würde sie vielleicht selber Kleist zitieren: nicht mehr von Ärzten und Schwestern, nicht mehr von Gesunden, die in einen Kampf gegen sich selbst, der vermutlich ein Leben lang gedauert hat, nicht wirksam eingreifen, geschweige denn: ihn gewinnen können. Am 13. 5. 1992 stürzte sich Gisela Elsner aus dem Fenster eines Münchner Krankenhauses.

Was soll man sagen? Der Film ist brillant, in einem seltenen Sinne: nicht auf Kosten, sondern zugunsten seines Themas und seiner Personen. Er entlarvt nicht, sondern er zeigt; er schreibt mit und deutet zugleich; er arbeitet sehr souverän und zugleich entspannt mit verschiedenen Mitteln: dem Expressionismus seiner klar kontrastierten Schwarzweißfotografie, der Kargheit der Dokumentation, der dramaturgischen Klugheit des Spielfilms, der Psychologie der Anteilnahme. In diesem Sinne nimmt er auf, was Gisela Elsner verwarf: Sein Programm, wenn man es denn so nennen kann, ist eine poetische Wahrhaftigkeit, ohne den Kitsch, den sie gefürchtet hat. Es ist ein Film, der seine Protagonistin liebt und ihr deshalb wahrscheinlich sehr nahe kommt.

„Die Unberührbare“ kommt ohne Erklärungen aus. Man kann sie anschließend suchen, als Leser, und einige wird man wohl finden. Aber die Autonomie des Filme berührt das nicht. Und trotzdem wäre es nicht falsch, danach, noch einmal in ihren Romanen zu lesen und ihre Essays. Es schmälert manche Texte nicht, wenn man ihren Subtext zu kennen meint: Man denkt an Gisela Elsner auch als Objekt ihrer Eltern in diesem Film, wenn man Sätze wie diesen liest: „Was unsere übrigen Bundeskanzler in ihren Regierungserklärungen eilfertig zu kaschieren trachteten, offenbarte die auf einem Poster festgehaltene Verbeugung des Bundeskanzlers Helmut Kohl vor dem US-Präsidenten. Sie enthüllte die Lage des Staates, dessen höchste Repräsentanten den Vereinigten Staaten Dank dafür schulden zu müssen meinen, dass er von seinem engsten Verbündeten, der sich mehr als ein Todfeind entpuppt, dazu auserkoren ward, die Interessen der USA als ein passables Schlachtfeld zu wahren, auf dem es sich dessen Bevölkerung, wenn sie ihren Volksvertretern nicht endlich in ihr schmutziges Handwerk pfuscht, wohl oder übel eine Ehre wird sein lassen müssen, die Rolle des verratenen und verkauften Schlachtviehs zu spielen.“

„Die Unberührbare“. Regie: Oskar Roehler. Mit Hannelore Elsner, Michael Gwisdek, Vadim Glowna, Nina Petri, Charles Regnier, Jasmin Tabatabai, Lars Rudolph, u. a. Deutschland 1999, 100 Min.

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