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Viagra-Sattel für Weicheier

Biker-Equipment zwischen Verheißung und Kastrationsangst: Mit Anti-Impotenz-Sattel gegen „Sitzbeschwerden und Taubheitsgefühle im Genitalbereich“? Der ADFC hingegen rät Alltagsradlern, einfach zu schütteln, was man hat

von MARTIN KALUZA

Der Kollege staunte nicht schlecht, als er das persönlich adressierte Schreiben der Firma Specialized in seinem Fach fand: „Sehr geehrter Herr Schulz“, stand da, „sicherlich kennen auch Sie die lästigen Sitzbeschwerden und Taubheitsgefühle im Genitalbereich, die bei längerem Sitzen auf dem Fahrradsattel entstehen.“ Für einen Brief, der irgendwie noch die Kurve zu handfesten Verkaufsargumenten kriegen soll, ein unkonventioneller Einstieg: Der beigelegten Presse-Information ist zu entnehmen, dass die Firma mit ihrem „Anti-Impotenz-Sattel“ aus Amerika bereits nach einem Jahr „zahlreiche Männer und Frauen glücklich gemacht“ habe. Was ist passiert?

Vor zwei Jahren hatte der Bostoner Urologe Irwin Goldstein 500 regelmäßig trainierende Rennradler untersucht und festgestellt, dass vier Prozent von ihnen über Impotenz klagten. In der kaum radelnden Kontrollgruppe sei dem nur in einem Prozent der Fälle so gewesen. Das Problem sah Goldstein vor allem im Sattel: Bei den meisten Rädern müssen sich die Radler nach vorne lehnen und drücken so mit ihrem Gewicht auf eine Arterie, die den Penis mit Blut versorgt. Geschehe dies häufig, könne die Arterie dauerhaft gequetscht werden. Die Folge: tote Radlerhose. Das größte Impotenzrisiko machte Goldstein bei Fahrern aus, die ihre Weichteile jede Woche zehn Stunden und mehr in den Sattel walkten. Besonderes Aufsehen erregte Goldsteins These, dass Radfahren zudem noch die Wahrscheinlichkeit von Hodenkrebs erhöhe – und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Lance Armstrong an Hodenkrebs erkrankt war.

Zwar gab es schon länger – vor allem für Frauen – Sättel, die Druckstellen dort vermeiden sollten, wo sie am ärgerlichsten sind. Doch mit Goldsteins Studie hatten die Hersteller nun auch ein Verkaufsargument, das noch jeden Mann zumindest ins Grübeln gebracht hat: Kastrationsangst!

Am konsequentesten nutzt das bislang die Firma Specialized, wenn auch ins Positive gewendet: Der Prospekt zeigt neben dem Viagra-Sattel ein Bild mit lustig zappelnden Spermien nebst Sprechblase: „Den Himmel auf Erden an diesem Wochenende? Null Problemo.“ Eine sich nur mit einem Handtuch verhüllende Frau macht auch dem letzten Weichei klar, was es sich von dem Sattel erhoffen soll.

Der Effekt wird ermöglicht durch eine keilförmige Aussparung in der Sattelmitte. Außerdem werden die Sitzknochen nur noch leicht gepolstert: Gerade bei billigen Gel-Sätteln kann das Problem auftreten, dass die Knochen das Gel in die Mitte verschieben, wo es dann auf die Weichteile drückt. „Praktisch alle Sattelhersteller haben inzwischen für hundert Mark und aufwärts die schonenden Varianten im Programm; neben Specialized zum Beispiel Terry und Selle Italia“, erklärt Gerd Gaumann, Geschäftsführer bei Zentralrad. Das Prinzip sei bei allen das gleiche.

Goldsteins Hodenkrebs-Theorie hatte zwar schon vor zwei Jahren keine rechte Bestätigung in der Fachwelt erfahren, und Lance Armstrong hat sich wieder so weit erholt, dass es im letzten Jahr immerhin zum Tour-de-France-Sieg gereicht hat. Unterdessen bleibt jedoch umstritten, ob der falsche Fahrradsitz tatsächlich zu Impotenz führen kann.

Benno Koch, Pressesprecher des ADFC Berlin, kann den Wirbel um die Goldstein-Studie nicht nachvollziehen: „Radprofis, die 200 Kilometer am Tag fahren und sich mit Drogen vollpumpen, fallen abends ins Bett, und wir können davon ausgehen, dass da nichts mehr läuft.“ Er bemängelt, dass in den Studien „die Leute, die mit dem Rad zum Bäcker oder zur Arbeit fahren“, nicht vorkämen – denn wer in alltäglichen Größenordnungen Rad fahre, habe dadurch keine Potenzprobleme. Und selbst wenn man sich mal etwas abdrückt, hilft es schon, kurz abzusteigen und zu schütteln, was man hat. Koch: „Danach wird alles besser durchblutet, weil der Kreislauf ja noch in Gang ist.“

Oft liege die Ursache von Taubheitsgefühlen auch nicht allein im falschen Sattel, auch wenn sich dort die Beschwerden bemerkbar machten, sondern an der falschen Rahmengeometrie. Gerade wenn der Radler zu weit nach vorn gebeugt fährt, zwickt es. Koch empfiehlt deshalb, kein Fahrrad von der Stange zu kaufen, sondern sich fachkundig beraten zu lassen. Auf die richtigen Rahmenmaße sollen die Käufer dabei genauso achten wie auf den passenden Lenker und – natürlich auch das – einen bequemen Sattel. Den sollte man sich freilich nicht per Augenmaß aussuchen, sondern nach Möglichkeit eine Sitzprobe vornehmen. Viele Fahrradgeschäfte nehmen einen Sattel auch nach einem oder mehreren Tagen Probefahrt wieder zurück – vorausgesetzt, sie sind unbeschädigt.

Auch die ersten Krankenkassen haben, besorgt um die Zeugungsfähigkeit ihrer Kunden, reagiert und eine Reihe von gut gemeinten Ratschlägen ausgearbeitet. Die DAK zum Beispiel empfiehlt den Radlern, alle 30 Minuten einige Zeit stehend in die Pedale zu treten, für längere Touren den Lenker ein paar Zentimeter höher zu schrauben und Unebenheiten durch die Wahl möglichst breiter Reifen abzufedern. Sollte der Arzt dennoch ein Absinken des Testosteronspiegels feststellen, so die DAK, helfe nur eins: „mindestens eine Woche Finger weg vom Fahrrad. Nach diesem unfreiwilligen Kurzurlaub ist der Mann in aller Regel wieder fit.“

Und wenn alles nichts hilft, bleibt immer noch der Griff zum Liegerad. Dazu würde uns, nebenbei bemerkt, auch schon eine scharfe Werbekampagne einfallen.

Der Autor, 28, fährt täglich Rad, ist seit anderthalb Jahren verheiratet und bislang kinderlos.

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