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„Kinder sind keine Gepäckstücke“

Die Kita-Card soll berufstätigen Eltern einen Ganztagsplatz garantieren. Alle anderen müssen ihren Bedarf über vier Stunden vom Amt prüfen lassen. Kritiker fürchten eine Zwei-Klassen-Betreuung  ■ Von Kaija Kutter

594 Millionen Mark, das ist doch viel Geld, findet der SPD-Jugendpolitiker Thomas Böwer. So viel kostet jährlich die gesamte Hamburger Kinderbetreuung - 67.000 Plätze in Kitas, in Kindergärten, bei Tagesmüttern und in Horten für Schulkinder. Und mit diesem Geld, so mutmaßen die verantwortlichen Jugendpolitiker von SPD und GAL, könne man alles noch viel besser organisieren. Die Kita-Card, voraussichtlich gültig ab Sommer 2002, soll den Eltern helfen, „den turbulenten Alltag zwischen Kind und Beruf“ (SPD) besser zu bewerkstelligen.

Doch hinter dem griffigen Kürzel verbirgt sich ein Modell, mit dem die Stadt sich selber aus der Verantwortung steuert. Eine Kita-Bedarfsplanung soll es, weil angeblich gescheitert, nicht mehr geben. Lediglich die Kriterien, wer „sicher“ einen Platz bekommt, werden zentral von der Politik festgelegt. Garniert wird das neue Konzept mit einem Bonbon: Eltern sollen einen „Quasi-Rechtsanspruch“ auf einen Ganztagsplatz bekommen, sofern sie erwerbstätig oder in Ausbildung sind. Bitterer Nachgeschmack: Sind sie dies nicht mehr, rutschen sie in die Gruppe der „Ermessensfälle“. Dann bekommen sie nur einen Ganztagsplatz , wenn die Sachbearbeiter in den bezirklichen Jugendämtern es für richtig befinden und wenn der Etat nicht ausgeschöpft ist. Einen Rechtsanspruch haben sie nur auf vier Stunden.

Jürgen Näther, langjähriger Leiter der Abteilung Kindertagesbetreuung im Amt für Jugend, kann die Entstehungsgeschichte der Kita-Card-Idee schlüssig erklären: Vor zwei Jahren erstellte das Nürnberger „Institut für soziale und kulturelle Studien“ (Iska) auf Grundlage einer Befragung von Eltern in Wilhelmsburg eine Studie. Näthers Fazit daraus: „In der Kinderbetreuung ist noch Luft drin.“ Viele Eltern, die nur sechs Stunden täglich bräuchten, bekämen für ihr Kind einen Acht-Stunden-Platz, so die Studie. Grund: Die Kita-Träger haben ein Interesse daran, ihre Häuser voll zu belegen. Die verbleibenden zwei Stunden Betreuungszeit, so Näther, seien eine „Effektivitätsreserve“, die zur Verbesserung des Gesamtangebotes genutzt werden könnte.

Ob es diese „Luft“ tatsächlich gibt, ist arg umstritten. Was Behördenvertreter „Unternutzung“ nennen, bedeutet für Kinder und Erzieherinnen vor Ort lediglich erträgliche Bedingungen. Gruppenarbeit beispielsweise, Projekte und frühkindliche Förderung können nur realisiert werden, wenn es der Personalschlüssel erlaubt. Doch die Stadt hat in den vergangenen fünf Jahren bereits in zweistelliger Millionenhöhe Personal aus den Kitas herausgespart. Mit der Kita-Card soll die Kinderbetreuung besser an den Bedarf der Eltern angepasst werden. Diese müssen dazu bei den Jugendämtern ihre Arbeitszeiten angeben und bekommen dementsprechend Vier-, Sechs-, oder Acht-Stunden-Schecks, die sie in den Kitas einlösen können.

Doch ob die Einrichtungen in der Nähe tatsächlich die benötigten Plätze vorhalten, dafür übernimmt die Stadt keine Garantie. Hinzu kommt, das auch das Angebot von Früh- und Spätdiensten künftig über den „Markt“ gesteuert werden soll. Bisher wurde diese Dienstleistung über die allgemeinen Pflegesätze finanziert und gewissermaßen auch subventioniert. Künftig werden diese Stunden zusätzlich bewilligt und abgerechnet. Eine Mutter, die beispielsweise vier Stunden am Nachmittag arbeitet, hätte bisher einen Ganztagsplatz bekommen. Künftig, so Näther, müssten sechs Stunden reichen.

Diese Politik der Platzbelegung wird zu einer Betreuungsverdünnung führen, fürchtet Elimar Sturmhoebel vom alternativen Wohlfahrtverband „Soal“. Weitere Konsequenz werde eine „immer größere Bahnhofssituation“ in den Kitas sein, in der die Kinder „kommen und gehen“. Wer nur auf die Arbeitszeiten der Eltern schaue, so Sturmhoebel, könnte zwar tatsächlich auf die Idee kommen, „um Stunden zu schachern“. Aber es werde eben gar nicht gefragt, wie die kindlichen Tagesabläufe aussehen und ob es pädagogisch sinnvoll ist, ein Kind nur am Nachmittag in die Einrichtung zu geben. Das bedeutet beispielsweise, dass es niemals am Morgenkreis oder ähnlichen Ritualen teilnimmt, die aber nach pädagogischen Erkenntnissen unbestritten wichtig sind.

Eigentlich müsste „Soal“, der 129 Kita-Träger vertritt, das neue Konzept begrüßen. Ist es doch künftig den rund 900 Trägern in dieser Stadt erlaubt, das Platzangebot im Rahmen der Betriebsvorschriften selbstständig zu verändern – eine alte Forderung der Kinderladenszene. Bisher waren Träger gezwungen, ihr Angebot zentral vom Amt für Jugend genehmigen zu lassen. Doch dem alternativen Trägerverband schmeckt die neue Freiheit nicht so recht: „Wir scheinen die einzigen zu sein, die in dieser unangenehm technokratischen Diskussion den sozialpolitischen Aspekt einfordern“, sagt Sturmhoebel. Zwei von der Behörde in Auftrag gegebene Gutachten prüften zwar die juristische und organisatorische Machbarkeit der Kita-Card. Es gebe aber keinerlei Untersuchung zur sozialpolitischen Dimension. Sturmhoebel: „Kein Politiker stellt die Frage, was eigentlich die Kinder in einer Großstadt brauchen.“ Und keiner frage die Kinder.

Außerdem bringe die Kita-Card keine echte Freiheit. Wurde bisher die Zahl der Kita-Plätze zentral begrenzt, erledigt das künftig der Etat, der in Form eines Globalhaushalts auf die sieben Hamburger Bezirke verteilt wird. Wenn die Zahl der „Rechtsanspruchsfälle“ die dafür vorgesehenen Kosten übersteigt, wird das Loch mit Geld aus dem „Ermessenstopf“ gestopft – für die „Ermessensfälle“ bleibt dann noch weniger übrig. Kritiker der Kita-Card wie der Verein „Familienpower“ fürchten deshalb, dass vor allem die Kinder von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern künftig aus der Ganztagsbetreuung herausfallen.

In gewissem Maße ist das sogar gewollt. Die Stadt betreibe in nicht unerheblichem Umfang „Betreuung auf Vorrat“, sagt Näther. So würden 30 Prozent der Eltern zur Zeit der Bewilligung eines Ganztagsplatzes noch nicht arbeiten. Kinder von Arbeitslosen bekommen einen Ganztagsplatz, weil die Eltern dem Arbeitsamt nachweisen müssen, dass sie jederzeit vermittelbar sind. Für Näther wäre es aber zumutbar, dieser Klientel in der Zeit der Arbeitssuche einen regulären Halbtagsplatz zu gewähren, sofern sie die Garantie in der Tasche habe, bei Arbeitsaufnahme sofort einen Ganztagsplatz zu bekommen. Auch Kinder, deren Mütter ein Baby bekommen und in den Erziehungsurlaub gehen, sollen sich mit einem Halbtagsplatz begnügen.

Ein Konstrukt, das mathematisch Sinn macht, das aber Pädagogen die Haare zu Berge stehen läßt. „Kinder sind keine Gepäckstücke, die man nach Belieben ein- und auslagern kann“, sagt die Rahlstedter Heimleiterin Annette Krogh. Denn mit dem Wechsel der Betreuungszeit ist in der Regel auch ein Wechsel der Gruppe, der Freunde und der Erzieher verbunden.

Nachdem klar wurde, dass Rot-Grün die Umsetzung der Kita-Card zügig vorantreibt, setzen sich im Dezember die großen Trägerverbände zusammen und stellten Forderungen: Beispielsweise sollte jedes Kind bei Arbeitslosigkeit oder Erziehungsurlaub der Eltern mindestens zwölf Monate in der Gruppe bleiben dürfen. Ein Essential, mit dem sich der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Thomas Böwer anfreunden kann: „Wir werden das mit den Trägern vereinbaren“.

Näther hingegen, unter dessen Regie die Gesetzesvorlage erarbeitet wird, ist nicht zu so klaren Aussagen bereit. Statt der geforderten Zwölf-Monats-Garantie kann er sich „auch andere Zeiträume vorstellen“. Wenn bei einem Kind, dessen Mutter arbeitslos ist, der Bewilligungsbescheid abgelaufen ist, müsse es dem Sachbearbeiter „schon erlaubt sein, einmal nachzufragen“.

Laut Näther ist das Amt zurzeit noch dabei, die Auswirkungen der Kita-Card zu untersuchen. In drei Monaten rechnet er mit den Ergebnissen einer neuen Iska-Elternumfrage, die empirisch abschätzen soll, wie sehr der Gesamtbedarf durch einen Rechtsanspruch steigen würde. Dann, so Näther, wird sich entscheiden, ob es auch für Krippen- und Hortplätze einen Rechtsanspruch geben wird. Und es wird sich herausstellen, wie groß der „Ermessenstopf“ bleibt. Es sei ein „Essential“, so Näther, dass „mindestens fünf bis zehn Prozent“ für sogenannte „pädagogische Fälle“ übrig bleiben. Sollte dies nicht der Fall sein, „muss die Politik das bewerten“.

Matthias Taube vom Verein „Familien-Power“ bewertet es jetzt schon. Er fürchtet, dass eine dritte Gruppe von Eltern und Kindern aus der Anspruchsberechtigung herausgedrängt wird. Denn nicht jede Familie, der ein verlässlicher Kita-Platz gut tue, sei offenkundig ein „pädagogischer Fall“. Taube-Mitstreiterin Erika Praetsch erläutert: „Selbst wenn die Mutter den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt und Soap-Operas guckt, sollte das Kind einen Platz bekommen“. Denn andernfalls gucke das Kind auch nur fern.

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