: Der Fluch der Goldschraube
Traumhafte Erzählung über den nächtlichen Zauber einer haitianischen Heilung
In der Kassenschlange stand einer, dessen Wildwuchs auf dem Hinterschädel mir bekannt vorkam. Ja. Doch. Es war Thomas Pünschel, der seinen Einkaufswagen eben mit diversen Zigarettenschachteln befüllte, selbstverständlich Reval und selbstverständlich filterlos, denn alle anderen seien ja bloß Glimmstengel, wie er mir mal auf einem John-Lee-Hooker-Konzert bedeutete. Reval „ohne“ dagegen seien Dynamitstangen. Und dabei zwängte sich kurz seine blassrote Zungenspitze zwischen die schmalen Lippen und verschwand sofort wieder mit einem kurzen Zisch-geräusch: „Mtüpp“. Ein Tabakfussel trat seinen Weg in die ungewisse Ewigkeit an.
Pünschel schrieb experimentelle Romane, die kein Verlag drucken wollte, und Konzertkritiken für sein Heimatblatt, das viel mehr von ihm gedruckt hätte, für das er aber eigentlich nicht schreiben wollte. Seine unveröffentlichten Werke trugen keinen Titel, er zählte sie einfach durch. Mittlerweile war er bei „5“ angelangt – und ein Ende nicht in Sicht. Das dreckige Dutzend wolle er noch schaffen, sagte er mir mal auf einem Konzert.
Pünschel hatte mich nun aus dem Augenwinkel bemerkt. „Ah, hallöle“, winkte er, „ich warte draußen auf dich, muss dir was erzählen.“ Pünschel hatte immer etwas zu erzählen. Und so wartete ich gespannt, bis ich an der Reihe war, meine Katjespfötchen bezahlen durfte, packte sie eilig in meinen Stoffbeutel und verließ schnellen Schrittes den Supermarkt, um die Geschichte nicht zu verpassen. Draußen begrüßten wir uns per Handschlag, er zündete sich eine neue Zigarette mit dem alten Glutstummel an und sagte dann abgefeimt lächelnd, denn meine Neugierde stand mir wie mit Kohle ins Gesicht geschrieben, dass demnächst Jon Spencer Blues Explosion im Plattland gastieren sollten.
„Ja ja, habe ich auch gehört“, wischte ich in der Luft herum, „aber sag schon, was wolltest du mir erzählen?“ „Ach sooo, ja“, begann er gekünstelt, „es ist eine merkwürdige Geschichte – hm“, Pünschel schüttelte zweifelnd den Kopf, als ob er nicht recht sicher sei, mir diese Geschichte überhaupt erzählen zu dürfen. „Nun?“, munterte ich ihn auf. „Gut. Es gibt da einen jungen Mann, ich sage aber nicht, wie er heißt, der ist ohne Bauchnabel zur Welt gekommen. Und stell dir vor, eben dort, wo sich sein Nabel hätte befinden müssen – hier, weißt du“, er drückte mit dem Zeigefinger tief in seinen Schmierbauch, „da hatte der Kerl eine goldene Schraube.“ „Eine was?“ „Ja, genau, eine goldene Schraube. Zwanzig Jahre lang wandelt er nun mit dieser Anomalie durch eine ihm nicht sehr wohlgesonnene Welt. Er wird überall verspottet, findet keine Freunde, nur die Mädchen sind hinter ihm her, weil sie mal an der goldenen Schraube drehen wollen. Im einundzwanzigsten Jahr ...“ „Mensch, was erzählst du mir da“, unterbrach ich ihn. Ich steckte mir eine Handvoll Weichlakritze in den Mund und hielt ihm die gelbschwarze Tüte hin: „Auch welche?“
Er schüttelte nur traurig den Kopf. „Wart’s ab ... ! Also bald nach seinem zwanzigsten Geburtstag macht er Urlaub auf Haiti, und als er dort in der Sonne brät, bemerkt ein eingeborener Medizinmann das edle Teil in seinem Bauch und verspricht, die Schraube vermöge eines Zaubers zu entfernen. Er versetzt den jungen Mann in einen magischen Traum, wo er einen goldenen Schraubenzieher findet, mit dem sich die Schraube nun mühelos entfernen lässt.“ Ich nahm noch eine Handvoll Katjes, schüttelte entgeistert den Kopf, Pünschel steckte sich eine Filterlose mehr an und zog gierig. „Tja“, sagte er und blies mir den Rauch ins Gesicht. „Und genau in dem Moment, in dem der junge Mann dies träumt, wacht er auf. Es ist früh am Morgen. Er blickt nach unten, und in der Tat, die Schraube ist verschwunden.“ – „Toll“, sagte ich – vielleicht etwas zu scharf. „Hör zu, das muss man sich mal vorstellen. Ein über zwanzig Jahre dauernder Fluch ist gebrochen. Er ist natürlich völlig aus dem Häuschen. Außer sich vor Freunde springt er aus dem Bett. Und sein Arsch fällt ab.“ Pünschel nahm nun doch ein Lakritzpfötchen. Und sah mir in die Augen. „Ist das nicht verrückt, Mann? Das ist doch total verrückt, oder?“ – „Mensch, Pünschel, du bist verrückt“, sagte ich. Aber er winkte beleidigt ab, nahm seine Plastiktüten auf und ging wankend davon. Seine weite Jeanshose schlackerte bedenklich um die Hüften. FRANK SCHÄFER
Zitat:„Es ist eine merkwürdige Geschichte: Da gibt es einen jungen Mann, ich sage aber nicht, wie er heißt, der ist ohne Bauchnabel zur Welt gekommen.“
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