BILDUNG UND INTERNET: ZWEI WELTEN TREFFEN AUFEINANDER: Die neuen Analphabeten
Nein, die in Wiesbaden versammelten Rektoren haben sich kein bisschen gefreut. Als Kanzler Gerhard Schröder den Chefs der deutschen Hochschulen 50 Millionen Mark versprach, haben sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht. In Wahrheit sind die Rektoren ziemlich sauer. Recht haben sie. Die Initiative des Kanzlers „zur Fortentwicklung der Studienangebote in der Informatik“ hört sich nicht nur bürokratisch und langweilig an, sie ist auch so: zu klein, zu langsam, zu zaghaft.
In Deutschland bildet sich gerade ein neues Analphabetentum heraus, ein digitales nämlich. Aber was macht die Bundesregierung dagegen? Sie will die Hochschulen mit Brotkrumen abspeisen. Der Vergleich mit einer Zahl aus der boomenden Digitalbranche zeigt, wie zwergenhaft sich Schröders Initiative ausnimmt. Sein Finanzminister wird im Sommer rund 100 Milliarden Mark aus jener Branche einstreichen, die Internet, Fernsehen und Telefonie in neue Superhandys zusammenpackt. 100 Milliarden Mark. Auf einen Schlag. Gleichzeitig lässt Schröder, über fünf Jahre verteilt, 50 Millionen Mark in die Informatik tröpfeln. Jene Teile der Unis also, die nichts mehr von dem richtig können, was sie sollen: Studenten zu aufgeklärten Bürgern erziehen und zu hoch qualifizierten Experten ausbilden.
Es ist freilich nicht etwa ein einzelnes Fach, was an den Hochschulen einer technischen Entwicklung hinterherhechelt. Es ist das Bildungssystem als Ganzes, das mit der neuen, der digitalen Dimension nicht zurechtkommt. In den paar Schulen, die schon am Netz sind, treffen zwei Welten aufeinander: das Internet, das jung und schnell ist, teuer auch und von ständigen Technologieschüben angetrieben; und das Bildungswesen, das an Überalterung und Behäbigkeit leidet, das möglichst billig sein soll und von Verkrustungen geprägt ist. Bildung hängt hinterher – egal ob man die politische Verfassung des Bildungssystems, seine Prozeduren oder sein Personal betrachtet.
Beispiel Struktur: Bis sich die 16 Kultusminister auf einen grundsätzlichen Beschluss einigen, vergehen manchmal Jahrzehnte; die technologischen Wellen aber, die digitale Betriebssysteme, Hardware-Versionen und Programmiersprachen veralten lassen, nähern sich der Halbjahresgrenze. Beispiel Prozeduren: Bis eine neue duale Ausbildungsordnung für einen Kommunikationsberuf verabschiedet ist, braucht es Jahre; im selben Zeitraum aber hat sich das Berufsbild zweimal verändert. Beispiel Personal: Hierzulande sind LehrerInnen 50 Jahre alt – im Schnitt! Gleichzeitig bastelt die Industrie an Kommunikationsprodukten, die auf Fünfjährige zugeschnitten sind.
Es kann nicht darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen. Für ein demokratisch gestaltetes Politikfeld gelten andere Prämissen als für eine Entwicklung, die technologischen und Marktgesetzen folgt. Wenn die Politik aber den Ungleichheiten nicht einfach zuschauen will, die aus dem Zusamenprall zwei so unterschiedlich schneller Systeme wie Schule und Internet entstehen, dann muss sie handeln. Dafür ist es höchste Zeit.
Die Bundesrepublik hat bisher zwei Bildungskrisen erlebt: In den 50er-Jahren konnte das verengte Bildungssystem nicht genug Personal qualifizieren. Die zweite rührte daher, dass die sozialdemokratische Bildungsexpansion der 70er-Jahre auf breite Schichten strukturell nicht bewältigt wurde. Zwar wurde ausreichend (Aus-)Bildung angeboten. Die Lehranstalten aber schwollen zu übermächtigen, ineffizienten und schwer steuerbaren Bildungsapparaturen an. Das Internet legt jetzt gnadenlos eine dritte Misere offen: dass Schulen wie Hochschulen im Grunde verwahrlost sind, räumlich, sozial und finanziell. Bildungsstätten sind mittlerweile sogar am Geruch zu erkennen: In mancher Uni-Bibliothek müffelt es wegen Überfüllung. Und Hinweisschilder auf Schultoiletten braucht man ohnehin nicht anzubringen – man riecht schon, wo man hinmuss.
Man darf, ja man muss es sogar einen Skandal nennen, dass sich die Beteiligten – Politik, (Hochschul-)Lehrer, Gesellschaft und Wirtschaft – die Schuld an der Bildungsmisere gegenseitig zuschieben. Wer nicht will, dass SchülerInnen und StudentInnen den Anschluss verpassen, der muss alle Akteure an einen Tisch holen. Das muss nicht so schnell gehen wie in einer E-Mail-Konferenz. Aber es darf auf keinen Fall so lange dauern, wie Kultusminister üblicherweise tagen. CHRISTIAN FÜLLER
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