Entfremdetes Leben erzeugt Süchte

betr.: „Lebe wild und gefährlich!“, taz vom 25. 4. 00

Die Bundesdrogenbeauftragte Christa Nickels will Verständnis und Ausstiegshilfen für „Suchtkranke“ sowie Drogenprävention durch Aufklärung, aber ihr Ansatz ist rein verhaltensorientiert, individualfokussiert und strukturkonservativ. Dass entfremdetes Lieben, Genießen und Arbeiten für den weit verbreiteten exzessiven Gebrauch chemischer/nichtchemischer Suchtmittel (und einige andere destruktive Erlebens- und Verhaltensweisen) verantwortlich zeichnen, das hat eine kritische Psychologie und Kulturtheorie einmal gewusst.

Wenn die Lebenszusammenhänge breiter Teile der Bevölkerung in Deutschland miserabel, Stress erzeugend und krank machend sind, dann fallen Aufklärung, Therapie – und auch Verbote – auf wenig fruchtbaren Boden, reicht es für eine „strukturelle Prävention“ nicht aus, Ausstiegs- oder Hilfsangebote bereitzustellen. Um die Schmalspur zu verlassen, müsste eine echte Drogenprophylaxe primär eine Verhältnisprävention – als notwendige Grundlage der Verhaltensprävention – sein, in deren Zentrum die Forderung einer grundsätzlichen und konsequenten Anpassung der Wohn-, Lern- und Arbeitsbedingungen, Städte- und Verkehrskonzeptionen sowie rechtlicher und sozialer Verhältnisse an menschliche Bedürfnisse stehen müsste, und nicht die – berauschte oder nüchterne – Anpassung von Menschen an oft hässliche und sinnlose Lebensbedingungen. Gewisse Stückwerkansätze („Humanisierung der Arbeit“) gibt es ja seit einiger Zeit, aber sie werden konterkariert durch zunehmende soziale Ungleichheit und Sozialabbau, Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Zwangsarbeit und Abbau der ArbeitnehmerInnen-Rechte, Umweltzerstörung, städtebauliche Verödung mit sozialer Segregation usw. Eine menschliche Umgestaltung müsste unter demokratischer und tatkräftiger Beteiligung aller interessierten Menschen stattfinden.

Vor allem stellt sich die Frage, ob eine umfassende zivile und menschliche Politik unter der totalen Priorität einer von der Bundesregierung weiterhin forcierten wirtschaftlich-militärischen und „modernen“ Konkurrenzpolitik überhaupt möglich ist. Man kann den Menschen nicht die falsche Freiheit nehmen, ohne ihnen die echte zu geben; und das heißt: die Möglichkeit, wesentliche Rahmenbedingungen kollektiver sowie individueller Entfaltung mit (anderen) zu gestalten. MICHAEL BIALEK, Bremen