: „Europa braucht keine Visionen“
Joschka Fischers persönliche Zukunftsvisionen zur europäischen Föderation stoßen bei der CDU und vor allem bei den kleinen EU-Staaten auf große Vorbehalte. Sie fürchten die Dominanz der Großen. Viel Lob kommt dagegen aus Frankreich
von NICOLE MASCHLER
Denkanstöße wollte Bundesaußenminister Joschka Fischer am vergangenen Freitag mit seiner Grundsatzrede zur Europa-Politik geben. Tatsächlich trat er mit seinen Thesen zur europäischen Föderation und einer verstärkten Zusammenarbeit von Kernstaaten eine Lawine los: Seine „persönliche Zukunftsvision“ ist bei mehreren europäischen Partnern und der Opposition auf harsche Kritik gestoßen.
„In der Europa-Politik braucht es im Moment Konkretionen und keine Visionen“, sagte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel der Berliner Zeitung B.Z. Bis Ende des Jahres müssten die institutionellen Reformen der EU umgesetzt sein. „Da muss die Bundesregierung ihre Hausaufgaben noch machen“, so Merkel.
Dabei hatte Fischer lediglich eine alte Idee der Union neu aufgelegt: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter ihrem damaligen Vorsitzenden Wolfgang Schäuble legte bereits 1994 ein Papier über ein Kerneuropa aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten vor. Fischer will jedoch keinen exklusiven „Kern“, sondern einen „für alle offenen Integrationsmagneten“. CDU-Chefin Merkel warf Fischer vor, falsche Prioritäten zu setzen.
Vorbehalte gegen eine weitere politische Integration in Europa kommen auch aus den kleineren EU-Staaten und aus Großbritannien. Der britische Europa-Minister Keith Vaz sprach gar von einer „Minderheitsmeinung“. Fischers Europa-Vorstellungen spiegelten nicht die offizielle Haltung der deutschen Regierung wider. Ein Sprecher der irischen Regierung warnte davor, durch eine Gruppierung den europäischen Binnenmarkt „aufzuknacken“. Aus Österreich kam die Warnung vor einer Ungleichbehandlung der kleineren Länder. Ähnlich äußerte sich der finnische Außenminister Erkki Tuomioja.
Der griechische Außen-Staatssekretär Elissavet Papozi sagte der Welt am Sonntag, sein Land unterstütze jedes Verfahren, dass zur Vertiefung der europäischen Einheit führe – „jedoch ohne dass ein solches Verfahren willkürliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten einführen soll“. Die südeuropäischen EU-Länder fürchten seit je, beim Integrationsprozess zugunsten der Osteuropäer abgehängt zu werden. Einer Erweiterung stehen sie daher skeptisch entgegen.
Fischer hatte sich in seiner Rede deutlich für ein Europa der 27 oder 30 ausgesprochen. Die Kritik des bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber an der geplanten EU-Osterweiterung wies er in einem Spiegel-Interview deutlich zurück. „Es wäre eine historische Eselei sondergleichen, die Erweiterung nicht mit aller Kraft anzustreben“, so Fischer. Die Süderweiterung habe der deutschen und der französischen Wirtschaft ein gewaltiges Wachstum gebracht. „Die Osterweiterung hat denselben Effekt.“
Lob erhielt Fischer dagegen von Frankreichs Außenminister Hubert Védrine, der die Vorschläge als langfristige Vision bezeichnete. „Der Vorschlag von Fischer ist besonders jetzt willkommen, wo es um die große Erweiterung der EU geht“, sagte Védrine. Am 1. Juli übernimmt Frankreich turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft. Der Vorstoß Fischers wird von Beobachtern auch als Versuch gewertet, das deutsch-französische Verhältnis zu verbessern. In der Rede hatte er noch einmal betont, dass Deutschland und Frankreich bei der Fortentwicklung „Schlüsselrollen“ zukämen. So ist schon der Begriff der „Flexibilität“, der 1997 Eingang in den Amsterdamer Vertrag fand, auf eine gemeinsame Initiative beider Länder zurückzuführen.
Positiv äußerte sich auch der belgische Außenminister Louis Michel. Fischer nehme „die Probleme vorweg, mit denen die Europäische Union konfrontiert sein könnte“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen