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: ARNO FRANK über das Fernsehen als metaphysisches Medikament

HEILSAME GÖTZENDÄMMERUNG

In Indien, stand kürzlich zu lesen, läuft immer irgendwo ein Fernseher – wie ein alter Verwandter, der fortwährend am Tisch vor sich hinplappern darf, ohne dass man ihm zuhören müsste. Wo das Leben höchstselbst genug zu gucken und denken gibt, begegnet man einem Apparat wie dem Fernseher tendenziell mit liebenswürdiger Gleichgültigkeit.

Im Abendland dagegen geht die Mär vom konzentrierten Zuschauer – eine brave Lüge, die Sender wie Werbetriebende gleichermaßen entzückt. Nur wer Inhalte bewusst aufnimmt, taugt zum Konsumenten. Nun ist es aber ein offenes Geheimnis, dass von drei Stunden Fernsehen netto drei Minuten bewusst verfolgt werden. Die übrige Zeit verbringen wir in einem Zustand, der gutwillig als Trance, böswillig als Dämmern bezeichnet werden kann. Wir sind nicht mehr agierend oder reagierend in der Welt, sondern lassen sie über unsere Netzhaut tanzen – nur so lässt sich das Säugetier zum Brüten bringen.

Gedanken gehen verloren, und gedankenverloren zerstreuen wir uns in der Anschauung neuer und immer wieder neuer Abbilder dessen, was geschieht, sich ereignet, passiert.

Ein schöner Zustand. Aber alles andere als entspannend. Was daran liegt, dass die endgültige Drift ins Koma gleichsam von der elektrischen Grundspannung verhindert wird, die vom Fernseher ausgeht: Da plappert jemand in der Ecke, und wir meditieren über sein Plappern.

Kulturpessimisten jammern an dieser Stelle gerne über den Verlust der „Zeit“, die uns mit der großen televisionären Schere Abend für Abend aus dem Alltag geschnitten wird – und übersehen dabei, dass genau hier das Medium seine eigentliche und vornehmste Aufgabe erfüllt. Fernsehen spiegelt den kontinuierlichen Charakter des Daseins, indem es die lange Weile als Langeweile abbildet – und Brüche in diesem Kontinuum heilt, indem es sie fortwährend repetiert. Was nicht sein darf, wie Katastrophen à la Enschede, das treibt uns Adrenalin in die Adern.

Amateuraufnahmen, wie sie etwa die ARD im Anschluss an die „Tagesthemen“ präsentierte, haben schlechterdings überhaupt keinen Informations-, Nutz- oder Mehrwert. Hier werden Feuerwehrleute weggeblasen wie Ameisen von einem Handrücken, und als höchstes der Gefühle holt die Druckwelle den Kameramann selbst von den Füßen.

Der rasende Feuerball einer explodierenden Raumfähre. Ein abstürzender Düsenflieger, der sich durch die Zuschauermenge pflügt. Ein ICE, der sich um eine Brücke gefaltet hat. Hier ereignet sich ohne unser Zutun das Entsetzliche, Undenkbare – das in der Regel unaussprechlich ist, selten aber unansehlich. Leben geht zu Ende, und stellvertretend für uns leckt das Medium die Wunden.

Peter Sloterdijk würde fragen: „Wo sind wir, wenn wir fernsehen?“ Zu Hause, könnte man ihm antworten. In sprichwörtlich jeder Hinsicht.