: Digitale Deutlichkeit
„Dogma“ für den Hausgebrauch: Die ambitionierten Fernsehfilme der Reihe „Petites Caméras“ (arte) experimentieren mit moderner Technik
von CHRISTIAN BUSS
Eine Wand seines Heimzimmers hat er mit Pornopostern tapeziert, neben seinem Bett aber hängt ein Porträt von Karl Marx. René ist wirklich unerträglich, ein verbitterter Weltverbesserer, der durch Triebstau zum Monster mutiert ist. Für die anderen Heimbewohner hat er nur Verachtung übrig, seine Pfleger reizt er bis aufs Blut.
René hat eine degenerative Muskelerkrankung und ist an den Rollstuhl gefesselt. Nur die neue Pflegerin Julie hört ihm noch zu, als der Grobian sein unerfülltes Dasein mal wieder unverblümt auf den Punkt bringt: „Ich habe seit vier Monaten nicht mehr abgelassen. Ich brauche einen Ritt!“ Die junge Frau fasst sich ein Herz und arrangiert einen Termin mit einer Hure. Ein Entschluss mit weitreichenden Folgen. René wird zum neuen Menschen, aber die Heimleitung ist von der Unruhe, die seine Exkursionen zum Wohnwagen der Prostituierten verbreiten, überhaupt nicht angetan. Als die Verantwortlichen das Treiben unterbinden wollen, proben die Behinderten den Aufstand. In vorderster Reihe: René mit roter Fahne am Rollstuhl.
„Straße der Freuden“ ist ein außergewöhnlicher Film. Agitatorisch, analytisch und anrührend. Ein Lehrstück über sexuellen Notstand, Nächstenliebe und wahre Liebe. Mit leichter Hand erzählt Regisseur Jean-Pierre Sinapi seine Geschichte, und das ist wörtlich zu nehmen. Denn gefilmt wurde „Straße der Freuden“ mit der digitalen Kamera, die in Frankreich aufgrund ihrer Handlichkeit „petite caméra“ genannt wird. Sinapi löst alle Versprechungen ein, die diese neue Technik bereit hält. Zum Beispiel schraubt er die Kamera einfach an Renés Rollstuhl und filmt frontal das verzerrte Gesicht des Helden, während der sich aggressiv um die eigene Achse dreht. Wichtiger als solch experimentellen Abenteuer ist jedoch die generelle Geschmeidigkeit, mit der die digitale Kamera die psychosoziale Gemengelage in dem Pflegeheim erfasst und zeigt, wie aus emotionalen Bedürfnissen Politik zu politischen Strategien führt.
„Straße der Freuden“, der im Panorama der letzten Berlinale mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, ist einer der Höhepunkte der Arte-Reihe „Petites Caméra – Digitale Blicke“. Paradoxerweise machen die unter diesem Motto gezeigten Fernsehproduktionen Ernst mit den Forderungen jener dänischen Filmemacher, die vor zwei Jahren durch ein vollmundig formuliertes „Dogma“ das Kino revolutionieren wollten. Direktheit und Authentizität waren die Ziele dieses lockeren Zweckbündnisses, und die digitale Kamera schien dafür das optimale Werkzeug. Doch rückblickend haben die Verfechter „des reinen Films“ wenig Rühmliches hervorgebracht. Und auf dem gerade zu Ende gegangenen Festival von Cannes wurden zwar allerorten die Möglichkeiten der digitalen Kamera erörtert – die gezeigten Filme aber setzten fast alle auf herkömmliche Technik.
Mit der Siri-Hustvedt-Adaption „Das Zimmer der Zauberinnen“, das heute Abend die Reihe eröffnet, legt der Truffaut-Schüler Claude Miller („Die kleine Diebin“) ein eigenartiges Psychogramm vor. In dieser Krankheitsgeschichte einer Studentin, gespielt von Anne Brochet, überträgt sich die rätselhafte Beklemmung der Heldin gekonnt auf die Zuschauer. Kaum wird die Anthropologin wegen unerklärlicher Kopfschmerzen in die Psychiatrie eingeliefert, taucht sie in den gespenstischen Kosmos der Klinik ein. Regisseur Miller lässt die digitale Kamera von Schränken herunter- und hinter Vorhängen hervorsausen – wirklich verstörend aber sind die aberwitzigen Gespräche mit den Medizinern. Und die „petite caméra“ ist ständig auf Tuchfühlung mit der traurigen Heldin, wenn die peinlich genau die Symptome ihrer ominösen Erkrankung auflistet.
Die Arte-Reihe hält also einige Entdeckungen bereit: Hinter den ungeputzten Digitalbildern liegt die ebenso ungeputzte Wahrheit – vielleicht ist das die Zukunft des Filmemachens. Vorerst findet sie nur im Fernsehen statt.
Heute, 20.45: „Das Zimmer der Zauberin“; 2. 6, 20.45: „Straße der Freuden“, 00.05: „Mit geschlossenen Augen“; 9. 6., 20.45: „Ausgestiegen“
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