piwik no script img

Am Pferd, das nicht wiehert

■ Europameisterschaft im Kunstturnen in der Stadthalle hinterließ allerhand offene Fragen / Tut das weh? Wer gewinnt und warum? Wen interessiert das überhaupt?

Heino Ferch hatte vor Nervosität feuchte Hände. Ich auch. Beide beobachteten wir die Europameisterschaft im Kunstturnen der Männer, die am Wochenende in Bremen stattfand. Damit hörten die Gemeinsamkeiten allerdings auch schon auf, denn der aus Bremerhaven stammende Schauspieler („Comedian Harmonists“) hat sich früher mal für den diesjährigen EM-Ausrichter „1860 Bremen“ in der Kunstturn-Bundesliga die Gelenke ausgekugelt. Im Gegensatz zu mir wusste er also, was da unten in der Stadthalle vor sich ging und fieberte mit, wenn sich jemand in halsbrecherischer Manier um die Reckstange wickelte. Oder Anlauf nahm, um in mehrfachem Salto über dieses unüberwindbare Hindernis zu stürzen, das meine Sportlehrer „Pferd“ genannt haben. Höhnisch gewiehert haben sie dabei insgeheim, da bin ich mir sicher.

Ich hab den Zusammenhang zwischen diesem scharfkantigen Folterinstrument und den puscheligen Vertrauen einflößenden Vierbeinern nie verstanden. Turnen in der Schule war die Hölle. Ich wusste nie, was ich am schlimmsten fand. Nach dem misslungenen Aufschwung vom Reck zu plumpsen und mir das Steißbein zu prellen? Oder unter dem schadenfreudigen Grinsen meines Sportlehrers am Stufenbarren zu versagen und dabei mit dem Kinn auf dem unteren Holm aufzuschlagen?

Auf jeden Fall hat mich die Begegnung mit den Geräten nicht nachhaltig begeistert und entsprechend planlos sehe ich dem Treiben in der Stadthalle zu. Hier turnt einer an den Ringen und dort am Boden und jetzt hopst jemand auch noch über das Pferd! Wie jetzt? Wer zum Geier ist eigentlich dran? Auf der Pressetribüne scheine ich die einzige mit diesem Problem zu sein, denn alle anderen starren gebannt auf die fünfstelligen Ziffern auf der Anzeigentafel.

Mein Augenmerk ist derweilen gefesselt von den muskelbepackten Männerleibern, die mit kraftvoller Eleganz über die Matte und durch die Luft fliegen. Welche Anmut! Welche Kraft! Schade, dass es so plötzlich vorbei ist. Warum ausgerechnet dieser jetzt von Berni Schulte eine Medaille um den sehnigen Hals gehängt bekommt, verstehe ich nicht. Da hilft es nichts, mich bis zur VIP-Tribüne durchgeschlagen zu haben, wo mir Ingeborg Sieling, Präsidiumsmitglied und Frauenvorsitzende des Landessportbundes, das „Who-is-who“ der Bremer Sportszene erläutert. Auch der flüchtige Blick auf einen ehemaligen Weltmeister und ein Gespräch mit dem missgelaunten Trainer der „1860“ Bundeliga-Mannschaft bringt mich nicht weiter.

Später am Abend erfahre ich, dass das nicht an meiner Begriffsstutzigkeit liegt, sondern an dem kreuzkomplizierten Reglement. Bei einer Podiumsdiskussion mit dem publicity-trächtigen Titel „Ist das Turnen noch populär? Eine traditionsreiche Sportart in der modernen Mediengesellschaft“ regt sich auch der Vizepräsident des Deutschen Turner Bundes, Rainer Brechtken, über das System auf. Die stellvertretende Sportchefin von Radio Bremen, Silke Samel, bringt es auf den Punkt: „Beim Skispringen springen alle nacheinander und irgendjemand springt zwei Zentimeter weiter als alle anderen. Der hat dann gewonnen. Das begreifen alle.“

Beim Kunstturnen gibt es keine Tore, keine Zentimter und keine Sekunden. Und alle wuseln durcheinander. Die Diskutanden – darunter auch der ebenfalls turngeschädigte Senator Willi Lemke – sind sich einig, dass das so nichts wird mit der Medienwirksamkeit vom Kunstturnen. Mehr Fun müsse her, mehr Inszenierung und mehr Stars.

Fun! Ha, ihr habt gut lachen. Und als der Moderator dann noch den alten Turnerspruch „Von der Wiege bis zur Urne – turne, turne, turne!“ zum Besten gibt, ahne ich, warum Heino Ferch seine Starqualitäten lieber auf der Bühne und im Film auslebt. Und nicht auf einem „Pferd“. Eiken Bruhn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen