: Die stillen Monster
In seinem Regiedebüt „The War Zone“ verhandelt der Schauspieler Tim Roth das Thema Inzest jenseits der üblichen Täter-Opfer-Schemata
von PHILIPP BÜHLER
Wer „The War Zone“ verlässt, wird zunächst einmal schweigen wollen. Die nächsten Tage kann man dann damit verbringen, die Tapeten dieses einsamen Hauses in Devon zu vergessen, in das man sich mit vier Menschen hat einsperren lassen – jedes Zimmer hat sein eigenes Muster, und die beklemmende Atmosphäre hat einem genug Zeit gegeben, es sich einzuprägen.
Viel später wird man vielleicht einmal die Vergewaltigungsszene verarbeitet haben, aber das hängt von der eigenen Sensibilität ab. Nicht auszuschließen, dass es für einige auch zu viel wird. Als „The War Zone“ beim Filmfestival in Toronto gezeigt wurde, machte sich ein Zuschauer jammernd auf die Suche nach dem Feueralarm. Tim Roth soll am Ausgang gesessen und ihn persönlich davon abgehalten haben. Die Anekdote, ob sie nun wahr ist oder nicht, trifft den Kern.
„The War Zone“ ist eine schmerzhafte Erfahrung, und Tim Roth hat sein ganzes Herzblut darauf verwendet, uns diesen Schmerz spüren zu lassen. Dabei ist es eigentlich unüblich geworden, einen Film als persönliches Anliegen seines Schöpfers zu begreifen. Wir erkennen die Handschrift eines Regisseurs, das clevere Arrangement der Bilder oder auch nur eine Masche. Tim Roth aber, der in jeder Einstellung anwesend zu sein scheint, hat seine Vision verwirklicht. Vielleicht, weil dies sein erster Film ist. Wahrscheinlich aber, weil Inzest ihm nicht egal ist. Zumindest wäre das die beste Erklärung dafür, dass ihm sein Regiedebüt so ungeheuer beeindruckend gelungen ist.
Roth will nicht über ein „Thema“ reden, wie man es in einer Talkshow tun würde, ihm geht es um die Dynamik des Inzest. Weil dazu das Schweigen gehört, wird in „The War Zone“ eher gemurmelt, als dass Dinge ausgesprochen würden. Wozu sollten die Zuschauer auch erfahren, was den Beteiligten selbst unklar ist? Ahnt die Mutter (Tilda Swinton) etwa, was ihr Mann und die achtzehnjährige Tochter im Bad treiben? Was fühlt ihr Sohn Tom, als er sie dabei erwischt? Sollte er der Mutter davon erzählen? Hat er überhaupt etwas gesehen? Und warum leugnet Jessie, als er sie zur Rede stellt? Aus Scham, Angst oder Rücksichtnahme?
In dieser eigentlich intakten Familie, in der sich doch alle zärtlich lieben, ist eben nichts eindeutig. Vielleicht ist ihnen nur langweilig in dieser Einöde. Die Mutter, sie hat keinen anderen Namen, stillt ihr Neugeborenes, der Vater (Ray Winstone) streichelt über ihren postnatal erschlafften Bauch. Im Grunde unschuldig auch der Blick, den der pubertierende Tom gerne auf den Brüsten seiner Schwester verweilen lässt, während sie ihm die Haare wäscht. In wundervollen Küchen- und Badeszenen, die in ihrer vollen Körperlichkeit Rennaissancegemälden gleichen, hat Roth ein Monster und seine Opfer versteckt, aber keiner kann sie entdecken.
Damit sind die psychologischen Kausalketten abgerissen, alle Ebenen, auf denen sich Inzest politisch korrekt verhandeln ließe, sind brüchig geworden. Aber der Film hat auch ein moralisches Zentrum: den Zuschauer, der um familiäre Machtverhältnisse und die Folgen von Inzest weiß. Der auch weiß, dass Inzest immer Missbrauch ist. Roth arbeitet so lange wie möglich daran, dieses Wissen herauszufordern. Die Möglichkeit von Jessies Einverständnis wird umso länger aufrechterhalten, je mehr Beweise Tom findet.
Allerdings geht „The War Zone“ dabei nicht so weit wie Alexander Stuarts gleichnamige Romanvorlage, in der die Tochter fast als sexueller Aggressor auftritt. Denn Roth konstruiert solche Ambivalenzen mit einem überwältigenden Verständnis menschlicher Leiden und Verletzungen, ohne das ein solcher Film verloren wäre. Und dann kommt ohnehin jene Szene, die schließlich alle Interpretationen überflüssig macht. Die Vergewaltigung in einem trostlosen Weltkriegsbunker ist der Anfang eines langen, quälenden Endes: die Ausweitung der Kampfzone, durch die das Kammerspiel zum Krieg wird. Man kann verstehen, warum Ray Winstone seinen Regisseur nach dem Drehen dieser Szene umbringen wollte. Hier wird dem braven Mann die grenzenlose Empathie, mit der Roth alle seine Figuren durchdrungen hat, ein für alle mal genommen, und nur ihm.
Als Einflüsse für sein naturalistisches Schauergemälde nennt Roth die Regisseure Bergman, Tarkowski und seinen Entdecker Alan Clarke. Bürgen für einen hochsensiblen Film, den man sich vom Schauspieler Roth vielleicht sogar erhoffen durfte.
In Tarantinos „Reservoir Dogs“ war er eben nicht nur für die Metzeleien zuständig. Er war der kluge Junge, den der bösartige Tarantino hat bluten lassen. Nun hat Tim Roth erklärt, auch weiterhin in „Jungsfilmen mit Kanonen“ den Mr. Orange geben zu wollen. Es mache ihm einfach zu viel Spaß. Darüber freuen wir uns. Aber auch darüber, dass er als Regisseur andere Ziele verfolgt.
„The War Zone“. Regie: Tim Roth. Mit Ray Winstone, Lara Belmont, Freddie Cunliffe, Tilda Swinton u.a. Großbritannien 1998, 99 Min.
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