juttas neue welt
: Ganzkörper-Surfen mit Sigmund Freud

Drin ist man schneller, als man denkt – und während Boris Becker sich immer noch darüber wundert, ist es für andere viel verzwickter, wieder aus dem Internet rauszukommen. Besonders tief in der Nacht. Nichts ist nämlich leichter, als sich im Schlafanzug noch mal in die www-Weiten zu wagen. Wie einst Alice durch ein Kaninchenloch ins Wunderland purzelte, fiel ich eines Nachts in den Cyberspace.

Ich merkte erst, dass ich den Boden unter den Füßen verloren hatte, als mir eine warme Brise um die Nase strich. Elektrosmog wahrscheinlich. Mit Bits und Bytes brauste ich durch schmale Tunnel, hangelte mich mit Links von Seite zu Seite und über Berg und Digi-Tal. Auf www.addict.com fragte ich mich zu meiner Lieblingsband durch und groovte mit Sonic Youth zu „I Dreamed A Dream“ ab. Endlich konnte ich die mal wieder live hören!

Später sah ich einen Kollegen auf einer Homepage sitzen, deren Adresse ich jetzt besser für mich behalte. Ich ließ mich treiben, navigierte unbeschwert herum und stellte fest, dass mir die Rolle vorwärts noch nie so leicht gefallen war.

Plötzlich aber pfiff mir eine orkanartige Bö ins Gesicht. Als unerfahrene Ganzkörper-Surferin hatte ich mit solchen Stößen nicht gerechnet, knallte gegen ein Portal, dann gegen eine Firewall und wurde schließlich vom Sog des Sturms mitgerissen. In diesem Moment muss ich die Besinnung verloren haben. Wieder bei Bewusstsein und völlig verstrubbelt, erklickte ich ein Türschild mit der Aufschrift „PROF. DR. FREUD“. Ich war also in der Praxis des berühmten Traumdeuters unter freud.t0.or.at gelandet. Und da stand auch schon die legendäre Couch, ich schmiss mich mit letzten Kräften darauf und fragte den Professor, wie ich hier wieder rauskomme. „Ich fühle mich so eingeloggt“, gab ich zu. Er psychoanalysierte daraufhin etwas von Kindheitstrauma, latenten Traumgedanken und Wunscherfüllung und empfahl mir, mehr Traumarbeit zu leisten. Nachdem er mir einige Real Videos vorgespielt und mich in den Traum-Chat unter www.traumpraxis.de überwiesen hatte, hielt er mir eine Dialogbox vor die Nase und fragte: „Wollen Sie Ihre Sitzung hiermit beenden?“ Ich rief: „Jaja, tschüs, Herr Freud!“ Und trat vor die Tür.

Der Cybersturm hatte sich gelegt. Ich schaute mich hilflos um und wusste nicht, wohin ich mich konfigurieren sollte. Doch zum Glück ist auch das Netz bloß ein Dorf – und ich sah eine an mich adressierte E-Mail vorbeidriften. Ich hängte mich als Attachment an sie ran und landete in meinem Postfach. Erleichtert schloss ich die Augen und ruhte mich aus von meinen Seitensprüngen. Bis mich ein Doppelklick auf der Schulter aufschrecken ließ.

Meine Mitbewohnerin stand vor mir und fragte, ob ich nicht lieber im Bett als auf der Tastatur schlafen wolle. „Ich habe gar nicht geschlafen“, erwiderte ich energisch, wischte mir den Strg+F-Abdruck von der Wange und erzählte von meinen Surf-Abenteuern. Danach checkte ich noch mal meine Mails, zwei neue waren da: eine von Sigmund Freud, der mir ein Word-Dokument seiner „Traumdeutung“ schickte. Die andere war von mir selbst. Ich öffnete zögernd die angehängte Datei – könnte ja ein Virus sein – und las: diesen Text. JUTTA HEES

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