Die Dynamik der Leere

Unter dem Pflaster liegt der märkische Strand: Mit Langzeitbelichtungen hat derFotograf Michael Wesely den Potsdamer Platz zwischen 1997 und 1999 dokumentiert

Bei einem Essen im Wedding unlängst gefragt, wie ich denn vor 1989 von hier aus heim nach Kreuzberg geradelt sei, hatte ich Mühe, den umständlichen Weg zu rekapitulieren: Entlang der Mauer, um Mitte herum, durch die „innere Peripherie“ Westberlins – so bezeichnete der Architekt Andreas Reidemeister den brachliegenden Stadtraum um Reichstag und neue Staatsbibliothek. Einen Ort überquerte ich stets: den Potsdamer Platz, dessen Eigenart den Nachkömmlingen kaum noch zu vermitteln ist.

Dieser Ort war eine Größe, die nur noch ihre geografische Lage mit der Vergangenheit verband. Die urbane Dichte der 20er-Jahre war verschwunden, die Frontpropaganda des Kalten Kriegs hatte das Areal zu einer wüsten Projektionsfläche gesteigert, die es auch nach den entspannten 70er-Jahren blieb. Heute erscheint angesichts der gebauten Images von DaimlerChrysler und Sony die Situation unwirklich, in der sich Wohnwagenidylle, Nationalismus und Durchgangsverkehr begegneten.

Die in der Ausstellung „Potsdamer Platz 1997–1999“ präsentierten fünf fotografischen Tableaus von Michael Wesely bringen die Spuren dieser dynamischen Leere in Deckung mit dem neu entstandenen Quartier. Was zunächst Mehrfachüberblendung vermuten lässt, erweist sich als Langzeitbelichtung: Für das Auftragswerk der Sammlung DaimlerChrysler hat Wesely 1997 in beheizten Klimakästen untergebrachte Kameras aufgestellt, die ausgewählte Ausschnitte zwischen 17 und 26 Monate lang auf die Negative bannten.

Von den Dächern der Info-Box, des Hauses Huth, des Canaris-Hauses am Landwehrkanal und der Staatsbibliothek mit durchgängig geöffnetem Objektiv aufgenommen, dokumentieren die Fotografien das Baugeschehen in einer ungewöhnlichen strukturellen Dichte. Das Tagesgeschäft der Arbeiter hat keine Spuren hinterlassen, die Kräne sind schattenhaft, und die neuen Gebäude selbst wirken wie Trugbilder. Wesely hat die sukzessive Vervollständigung der Bauten gleichsam fließend festgehalten und damit eine erstaunliche Bildtiefe gewonnen: Wie mit einem Röntgenblick werden die zuerst errichteten tragenden Elemente erkannt, vor denen sich – dünnen Vorhängen gleich – die später angebrachten Fassaden entlangziehen.

Fotografierte Architektur als Prozess voller Ereignisse

Architektur ist eines der frühesten Motive in der Fotografie, was simpel an den langen Belichtungszeiten des ersten Filmmaterials liegt. Anders als beim traditionellen Sujet geht es Wesely jedoch nicht um die Visualierung der Gestaltung, sondern um die des ereignisvollen Prozesses. Als gleichmäßig gebogene Kurve am Himmel bleibt dabei der wiederkehrende Sonnenverlauf sichtbar.

Mit Langzeitbelichtungen hat der 1963 geborene Münchner Wesely seit 1993 gearbeitet. Einige frühe, im Vergleich mit den vorgestellten Bildern freilich kurz aufgenommene Arbeiten sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen. Sie akzentuieren die vergehende Zeit mit weichen Bewegungslinien und geben unmittelbar Auskunft über das Geschehen.

Im Katalog stellt Ralf Christofori den prospektiven Bildentwurf des Künstlers der retrospektiven Imagination des Betrachters gegenüber. Wesely wusste bei der Wahl seiner Kamerapositionen, dass die während der Belichtungszeit betonierten Bauten auf der Negativplatte nur durchsichtige Schleier sind, die alten Linden der Potsdamer Straße aber in undurchdringlichen Grautönen bleiben. Für mich wird vor allem der Ort jenseits des Gebauten sichtbar: Unter dem Pflaster, das ist nach Betrachten der Fotos gewiss, liegt der märkische Strand.

MICHAEL KARSISKE

Bis 2. 9., Di.–So. 11–18 Uhr, Haus Huth, Alte Potsdamer Str. 5; Katalog 18 DM