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WIE KULTURELLE MINDERHEITEN BESSER ZU SCHÜTZEN WÄRENOB auf dem Balkan, in Nordirland, dem Baskenland oder im Kaukasus, in Afrika oder Indonesien: In aktuellen Konflikten geht es immer häufiger um das Schicksal von Minderheiten. Diese aber fordern nicht selten – mangels Alternativen – einen eigenen Staat. Gibt es keine andere Lösung als die Gründung neuer fragiler Staaten, in denen die Konflikte vorprogrammiert sind? Dabei böte das Konzept der personalen Autonomie ein viel versprechendes Modell für die Zukunft, da es Menschen verbindet, ohne sie an ein Territorium oder eine Nation zu ketten. An historischen Beispielen mangelt es nicht.Von YVES PLASSERAUD *Die vergessene Geschichte der personalen Autonomie

Seit jeher leben in Staaten verschiedene Völker unter einem Dach zusammen. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts hat das Phänomen mit Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Gastarbeitern in aller Welt ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Exakt lässt sich das ethnische und kulturelle Durcheinander auf dem Globus kaum mehr erfassen. Unter diesen Bedingungen wird es zunehmend unrealistisch, allen Minderheiten auch nur ein Mindestmaß an kulturellen Rechten zu garantieren, selbst wenn der politische Wille dazu bestehen sollte. Das fängt schon mit der Schule an: Wie soll man Menschen, die verstreut unter anderen Völkern leben, Ausbildung und Unterricht in ihrer Muttersprache bieten?

Vor einigen Jahren zeigten sich die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens in Bosnien, wo alle Projekte – einschließlich der so genannten Kantonisierung – daran gescheitert sind, dass sich die divergierenden Interessen nicht unter einen Hut bringen ließen. Doch Ideen zur Lösung des Problems existieren schon lange. Einige von ihnen sind einer näheren Betrachtung wert. Denn das Konzept, wonach jedes Individuum, egal wo es sich gerade aufhält, über einen personalen Status verfügt, ist schon sehr alt.

Nach den großen Invasionen im Mitteleuropa des 5. Jahrhunderts[1]galt über mehrere Jahrhunderte neben dem römischen Recht das germanische Gewohnheitsrecht der Neuankömmlinge, bis dann mit der Sesshaftwerdung der einzelnen Stämme das Privatrecht vereinheitlicht wurde. Die Idee strikt auf Personenen bezogener Gesetze hielt sich auch noch lange Zeit in der Form der Selbstverwaltung einzelner Völker mit besonders deutlich ausgeprägtem Partikularismus. So bekamen etwa 1486 die Siebenbürger Sachsen (im heutigen Rumänien) vom ungarischen König Mathias I. Corvinus einen Autonomiestatus für ihre „Nation“ zugesprochen; die Verfassung Siebenbürgens beruhte damals also auf der Vereinigung dreier Völker: unio trium nationorum.[2]

Gegen Ende des Mittelalters gewährten die europäischen Herrscher aufgrund ihrer damaligen Interessen den Juden mitunter Garantien, die allerdings jederzeit aufgekündigt werden konnten. Der Status der polnischen Juden zu Beginn der Einwanderung der Aschkenasim illustriert sehr deutlich diese Vorgehensweise. Bei ihrer Ankunft im Königreich an der Weichsel (dem heutigen Polen) wurden den Juden eine Reihe von Privilegien zugesichert, die denen in ihren Herkunftsländern entsprachen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Statut, das Herzog Boleslaus der Fromme 1264 seinem Territorium Großpolen auferlegte. Dieses Statut orientierte sich am Edikt von Magdeburg von 1188, das die Juden von diversen Abgaben befreit hatte, und wurde zum Vorbild für viele spätere Statusmodelle.

Aufgrund ihrer Religion und ihrer „ethnischen Abstammung“ wurde die jüdische Gemeinschaft dort als eigenes gesellschaftliches Gebilde anerkannt, das in Gemeinden (hebräisch kehilot) unterteilt war, und genoss eine innere Autonomie. Die Juden galten als Eigentum des Fürsten (servi camerae) und konnten nur von einem Vertreter desselben gerichtet werden. Jeder Angriff auf einen Juden oder sein Eigentum kam einem Angriff auf das Eigentum des Herrschers gleich.

1334 dehnte Kasimir III. (Kasimir der Große) diese Regelung auf das gesamte Königreich aus. 1388 folgte Vitautas von Litauen[3]seinem Beispiel. Dabei waren freilich nicht ganz uneigennützige Gedanken im Spiel, denn es war damals gang und gäbe, die „Schutzbefohlenen“ auszubeuten. Man hatte ausgefeilte Methoden entwickelt, verfolgte Juden auf offiziellem Wege durch Vorrechte und langfristige Garantien ins Land zu locken. Sobald die betreffende Gemeinde prosperierte, wurden die Juden ihrer gesamten Habe beraubt und vertrieben. Danach schlug man ihnen vor, zurückzukehren und die geraubten Güter und Vorrechte wieder zurückzukaufen.

Einen anderen Umgang mit religiösen Minderheiten praktizierte das osmanische Milletsystem (millet oder milla bezeichnet eine nichtislamische religiöse Gemeinschaft, die unter der Leitung eines selbst gewählten Führers gewisse Autonomierechte genoss). Weil in der muslimischen Welt Politik und Religion untrennbar zusammengehören, mussten die Herrscher von Konstantinopel einen Rechtsstatus für die nichtmuslimischen Untertanen finden, die den beiden anderen Offenbarungsreligionen angehörten.

Muslime besitzen laut Koran einen ortsunabhängigen Persönlichkeitsstatus. Folglich lag es nahe, dass man auch den anderen protegierten Gemeinschaften analoge Rechte einräumte. Von diesen Konzessionen profitierten seit dem 18. Jahrhundert vor allem Christen; sie erhielten besondere Privilegien, die später, als sie dem Schutz der westlichen Staaten unterstanden, auch Kapitulationen genannt wurden.

Wenden wir uns nun wieder Mitteleuropa und den Revolutionen von 1848 zu, insbesondere József Eötvös (1813-1871), dem „ungarischen Tocqueville“. Dieser aufgeklärte Adelige, Unterrichtsminister der demokratischen ungarischen Regierung von 1848 und späterer Architekt des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867, war ein Vordenker der westlichen Idee von der konkreten Anwendung des Nationalitätenprinzips. Er war einer der Ersten, wenn nicht sogar der Erste überhaupt, der in diesem Zusammenhang über das System der personalen Autonomie nachdachte.

In seinem 1856 in Pest erschienen Werk „Die Nationalitätenfrage“ zog er zum ersten Mal eine Parallele zwischen Religion und Nationalität und behandelte die Zugehörigkeit zu einem Volk (das durch seine Sprache definiert ist) als ein rein individuelles Recht der Person. Vor dem Hintergrund seiner Zeit ging der ungarische Autor allerdings nicht so weit, eine Verfassung zu propagieren, die auf dem Prinzip des säkularen Staates beruht; auf politischer Ebene konkretisierten sich solche Ideen erst später, in der Spätphase der Habsburger Doppelmonarchie.

Blinder Fleck bei Marx und Engels

IN den wenigen Texten, in denen sich Marx und – häufiger noch – Engels[4]mit der Materie befassen, tritt die nationale Frage weit hinter die Klassenfrage zurück. Die Nation – ein vorübergehendes Gebilde, das einer bestimmten Entwicklungsphase des Kapitalismus entspricht – musste zwangsläufig den historischen Interessen des Weltproletariats untergeordnet werden: Ein Proletarier hat bekanntlich kein Vaterland!

Trotz dieser Überzeugung waren die Begründer des Marxismus von der brennenden nationalen Frage beeinflusst. Doch weil sie ihr rein instrumentalistisch beizukommen versuchten, verstanden sie den Befreiungskampf der Nationen bestenfalls als Beitrag zum erwachenden Bewusstsein der Massen. Sie unterschieden zwischen den „Staatsnationen“, die sie als lebensfähig einschätzten, und den kleinen „geschichtslosen Nationen“, die über kurz oder lang zum Verschwinden verurteilt seien, was nach ihrer Auffassung etwa den Tschechen, den Bretonen oder den baltischen Völkern blühte. Lediglich die großen mitteleuropäischen Staaten (an erster Stelle Deutschland) wiesen in ihren Augen den Vorzug auf, dass dort der für die Revolution notwendige einheitliche kapitalistische Markt entstehen konnte.

Da Marx und Engels als taktisches Ziel die Zerstörung des „Horts der Reaktion“ verfolgten, also vor allem des russischen und britischen Imperiums, hielten sie es mitunter für opportun, die „kleinen“ Nationalitäten des Zarenreiches (die Polen und Balten) zu unterstützen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannte Engels, dass ohne die Autonomie, d. h. die Unabhängigkeit staatlicher Einheiten, eine erfolgreiche Revolution oft kaum durchführbar ist. Diese Auffassung wurde übrigens, etwas aufgeweicht, von der 1889 in Paris begründeten Zweiten Internationalen übernommen.

Aufgrund der multiethnischen Struktur der Habsburger-Monarchie und dank einer gewissen intellektuellen Freiheit haben sich die österreichisch-ungarischen Sozialisten als Erste eingehender mit dem Verhältnis zwischen der sozialen und der nationalen Frage auseinander gesetzt. Sie konnten sich auf ein Grundgesetz stützen (das auf der Basis eines Gesetzesentwurfs von 1849 verabschiedet worden war), dessen Artikel 19 lautete: „Alle Völker des Staates haben die gleichen Rechte, und jedes Volk besitzt das unveräußerliche Recht, seine Nationalität und seine Sprache zu pflegen ...“[5]Auch die Austromarxisten haben zu diesem Thema schon sehr früh eine eigenständige Haltung eingenommen.

Der erste Sozialdemokrat, der eine Theorie zur nationalen Frage entwarf, war der Österreicher Karl Kautsky (1854-1938); im Gegensatz zu den Gründungsvätern formulierte er 1887 seine Theorie auf der Grundlage britischer Erfahrungen. Ausgehend von einem historisch-ökonomischen Ansatz, bezog er eine pragmatische Haltung, die den unnachgiebigen Internationalisten wie auch den Anhängern einer nationalen Unabhängigkeit auf halbem Wege entgegenkam. Den wichtigsten Beitrag zu dieser Frage lieferten jedoch Karl Renner und Otto Bauer.

Der in Mähren geborene Jurist Renner (1870-1950) wies den Nationen eine wesentliche Rolle zu und bedauerte, dass ihnen, anders als den Kirchen, im Herzen der Doppelmonarchie kein eigener rechtlicher Status zukomme und sie gezwungen seien, sich in politischen Parteien zu organisieren. Er verwarf die herrschende „atomistisch-zentralistische“ These, nach der – wie in Frankreich – dem Staat lediglich das einzelne Individuum gegenüberstehe, und plädierte stattdessen dafür, das österreichische Imperium in eine Reihe von Provinzen zu gliedern, die möglichst weitgehend den ethnischen Grenzen entsprechen sollten; innerhalb der Provinzen wiederum sollte die vorherrschende nationale Gruppierung in allen sprachlichen Fragen tonangebend sein. „Die innere Gliederung der Nationalitäten“, unterstreicht Renner, „müsste natürlich nach der örtlichen Siedlungsdichte erfolgen: Die Conationalen eines Orts- oder Bezirkssprengels bildeten eine nationale Gemeinde, das ist eine öffentlich- und privatrechtliche Körperschaft mit Verordnungs- und Umlagerecht. Eine gebietlich und culturell zusammengehörige Zahl von Gemeinden bildete einen nationalen Kreis mit gleichen Körperschaftsrechten. Die Gemeinsamkeit der Kreise bildete die Nation. Auch sie ist Reichssubject des öffentlichen und privaten Rechts.“[6]Im Rahmen dieses „Nationalitätenbundstaats“ sollen Minderheiten, konstituiert als „nationale Verbände“ von Individuen, eine „kulturelle extraterritoriale Autonomie der Person“ genießen.[7]

Der Soziologe Otto Bauer (1880-1938) verwarf den sprachlichen Determinismus Renners und erweiterte das potentielle Anwendungsfeld des Systems auf die „geschichtslosen Nationen“ und sogar auf die „entwurzelten“ Proletarier. Der Autor des 1907 erschienenen Werkes „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ interessierte sich vor allem für die Kultur der „proletarischen Minderheiten“, die aus der Binnenwanderung der Arbeitermassen entstanden waren, und wandte sich gegen jede Zwangsassimilierung. Wie Renner distanzierte er sich energisch von den „Separatismen“, insbesondere vom tschechischen und jüdischen, weil sie in seinen Augen eine antiassimilationistische Ideologie begünstigten und der Einheit der Arbeiterklasse im Wege standen.

Im Rahmen der Sozialistischen Internationale lehnte Lenin die von ihm so bezeichnete „Kirchturmpolitik“ jedoch entschieden ab – obgleich seine Hauptsorge ja der Versöhnung des russischen Proletariats und der Völker des Imperiums in ihrem nationalen Befreiungskampf galt.[8]Auf dem Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahre 1898 stellte er sich gegen die späteren Menschewiki[9], die für die kulturelle Autonomie von Minderheiten eintraten und diesen das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannten.

Auf dem Kongress der russischen Sozialdemokraten (1903), der den Bruch zwischen Bolschewiki und Menschewiki markierte[10], wurden die Hoffnungen der Extraterritorialisten (Anhänger einer nichtterritorialen Autonomie) zu Grabe getragen. Lenin erhob übrigens später das Recht auf territoriale Selbstbestimmung zu einem der Grundprinzipien der Partei (Punkt 9).[11]

Das politische Gewissen der jüdischen Arbeiter in den Städten entwickelte sich bis ins letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den herrschenden Rassismus einerseits und den stetig wachsenden Zionismus andererseits. Es galt, „normale“ soziale Rechte für die jüdischen Arbeiter durchzusetzen. Sehr bald wandten sich kritische Stimmen gegen den utopischen Charakter des Traums von der Assimilation. Juri O. Zederbaum, alias Martow, wies 1894 als Erster auf diese Gefahren hin. Seiner Meinung nach hatten sich die Juden gleichermaßen im Klassenkampf und im nationalen Befreiungskampf zu engagieren, denn die Produktionsverhältnisse des Ostjudentums würden niemals eine vollständige Gesellschaftsstruktur mit einer echten Arbeiterklasse hervorbringen.[12]

Auf die Frage, wie eine revolutionäre Situation herbeizuführen sei, gab es zwei entgegengesetzte Antworten. Für die Anhänger der territorialen Autonomie setzte dies die Existenz eines Staatsgebiets voraus – daher ihre Forderung nach Selbstbestimmung und der Schaffung eines jüdischen Staates. Den Bundisten und anderen Vertretern einer nichtterritorialen Autonomie schien diese Hypothese unrealistisch zu sein, zum einen weil in der Region so viele „geschichtslose Nationen“ in einer Gemengelage siedelten, zum anderen weil längst nicht alle Juden die Emigration anstrebten. Da für die Juden ihre Nationalität mit ihrer Sprache und Kultur verflochten ist, entschieden sie sich 1905 (6. Kongress der SDAPR) für diese Richtung: Danach ist die Kultur die nichtterritoriale Heimat der Juden, und das Jiddische, die Sprache der Massen, der Hebel für ihren nationalen Kampf.

Die austromarxistische Doktrin von der nichtterritorialen Kulturautonomie schien eine juristische Lösung darzustellen. Leider eignete sich Renners System, auch nach seiner eigenen Meinung, weder für die Diaspora noch für die verstreuten Minderheiten. Daher musste man Renners Doktrin für die Juden modifizieren. Die Führer der Bundisten und der Serp-Partei beschäftigten sich intensiv mit derartigen Überlegungen[13]und forderten []die Gründung einer multinationalen Partei und die Föderalisierung der SDAPR auf nationaler Ebene.

Andere Organisationen, insbesondere die sozialdemokratische armenische Arbeitervereinigung, kämpften für die gleichen Ziele. Die bundistische Führung erstrebte die Transformation Russlands nach dem Vorbild der österreichisch-ungarischen Monarchie in eine Föderation autonomer Völker, wobei die Autonomie jedoch nur für die multiethnischen Provinzen gelten sollte.

Der Nationalismus der Bundisten und anderer Bewegungen, ob sie nun für oder gegen (Poalei Zion, Serp) eine territoriale Lösung eintraten, wurde von der Führung der Zweiten Internationalen immer mit Argwohn betrachtet. Von der Basis wurden ihre Ideen dagegen eher positiv aufgenommen, zumal ihre Forderungen tatsächlich – und gerade hierin liegt der wesentliche Beitrag der sozialistischen Juden Russlands – auf einer religiösen und sozialen Kultur beruhten, die aus einer jahrhundertealten Autonomie innerhalb der kehilot erwachsen war. Die Austromarxisten hatten eben diese Faktoren nicht bedacht, die es doch gerade erlauben, die Prinzipien der personalen Autonomie auf die jüdischen Gemeinden anzuwenden.

Auch die „russischen“ Beiträge Simon Dubnows fanden schließlich Eingang in den Austromarxismus. In der 1916 von Wladimir Medem formulierten Zusammenfassung der Doktrin des Bundes heißt es: „Nehmen wir an, ein Land besteht aus mehreren Nationalitäten, etwa Polen, Litauer und Juden. Jede dieser Nationalitäten muss eine eigene Bewegung gründen. Alle Bürger einer bestimmten Nationalität müssen einer eigenen Organisation beitreten, die eine Vertreterversammlung in jeder Region und eine allgemeine Vertretung auf Landesebene gründet. Die Vertretungen der einzelnen Nationalitäten müssen mit einer selbständigen Finanzhoheit ausgestattet sein, wobei jede für sich das Recht besitzt, Steuern von ihren Mitgliedern zu erheben; der Staat kann aber auch jeder Nationalität aus seinen öffentlichen Mitteln einen entsprechenden Budgetanteil zuteilen. Jeder Bürger des Landes gehört somit einer nationalen Gruppe an, kann aber frei entscheiden, welcher nationalen Bewegung er sich anschließen will, und diese Entscheidung unterliegt keinerlei Kontrolle. Diese autonomen Bewegungen entwickeln sich dann im Rahmen der vom Parlament des Landes erlassenen allgemein gültigen Gesetze; in ihrem eigenen Kompetenzbereich sind sie jedoch autonom, und keine von ihnen hat das Recht, sich in die Angelegenheiten der anderen einzumischen.“[14]

Eine besondere Art von Föderalismus

MEDEM, der damit die traditionelle Überschneidung von Staat und Nation verwirft, schlägt für Regionen mit gemischter Bevölkerung einen Föderalismus vor, der sich auf die Autonomie der sozialen Einrichtungen gründet. Er schlägt vor, Russland in „nationale Verbände“ aufzugliedern, denen die Individuen in freier Entscheidung beitreten. Sobald die zersplitterten nationalen Gruppen auf der Basis eines „nationalen Katasters“ selbstorganisiert sind, sieht er die Konstituierung von „Körperschaften öffentlichen Rechts“ vor, also von juristischen Personen, die über Institutionen und Kompetenzen verfügen.

Die nationale Zugehörigkeit wird damit zum „ subjektiven öffentlichen Recht“, die Nation selbst zur „moralischen Person öffentlichen Rechts“. Ein solcher multinationaler Staat – vom französischen Rechtsgelehrten Stéphane Pierre-Caps „Multination“ genannt[15]– würde gemäß den traditionellen Prinzipien des Föderalismus seine Verantwortung auf die Verteidigung, die auswärtigen Beziehungen, die Wirtschaft und die Finanzen beschränken. Die nationalen (im Wesentlichen kulturellen) Angelegenheiten hingegen wären Sache der „nationalen Körperschaften“.

Für Regionen mit homogener Bevölkerung sehen die Theoretiker des personalen Föderalismus das klassische Konzept der Übereinstimmung zwischen Staatsverwaltung und nationaler Verwaltung vor (Prinzip der territorialen Selbstbestimmung), wobei der Distriktsrat jeweils für sich allein steht. Diese Mischung aus personalem und territorialem Föderalismus macht den originären Charakter der hier dargestellten Prinzipien aus.

Ab 1925 wurde das Prinzip der kulturellen Autonomie von Persönlichkeiten wie dem Baltendeutschen Paul Schiemann im einmal jährlich tagenden Europäischen Kongress der Nationalitäten (einer Partnerorganisation des Völkerbundes) propagiert. Und obwohl erhebliche Fortschritte zu verzeichnen waren, machte von 1933 an der um sich greifende Nationalismus sämtliche Hoffnungen auf dem Felde der Minderheitenrechte zunichte.[16]

Die Kritiker der personalen Autonomie haben diese immer als Utopie verschrien. Angesichts einer inzwischen leider vergessenen Geschichte sollten wir diese Position jedoch überprüfen. Das zaristische Russland und die später siegreichen Bolschewiki lehnten die Vorstellung einer personalen Autonomie strikt ab. In Österreich dagegen fanden die Gedanken der Austromarxisten bei all jenen Gehör, die um den Fortbestand des Dauerwunders bangten, das die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie darstellte. Dazu gehörten auch einige Anhänger der Rechten. Heinrich Lammach, Professor für internationales Recht und letzter Kanzler der Donaumonarchie, sah in der Anerkennung des Prinzips eines freien Zusammenschlusses der Nationalitäten die einzige Möglichkeit für das Überleben des Imperiums.

Einige Ansätze dazu gab es übrigens schon vor dem Ersten Weltkrieg. In Mähren wurde 1905/6 ein System der personalen Autonomie teilweise eingeführt. Im Hinblick auf die Wahl der beiden nationalen Kurien (der deutschen und der tschechischen), die beide im Reichstag von Brünn vertreten sein sollten, wurde ein nationaler Wahlkataster gegründet. Diese Einrichtung erwies sich als überaus erfolgreich und wurde später auf den Schulsektor ausgedehnt.

Positive Ansätze in den baltischen Staaten

DIE Kulturautonomie wurde 1910 – wiederum mit Erfolg – in der Bukowina[17]zwischen Deutschen, Juden, Polen, Rumänen und Ruthenen[18]erprobt. 1914 sollte sie in Galizien (Polen) eingeführt werden, wozu es aber aufgrund des Krieges nicht mehr kam. Nach dem Ende des Konflikts kam sie jedoch neuerlich zum Zuge – zum einen am 3. Januar 1918, als die kurzlebige ukrainische Zentralrada die personale Autonomie der Juden, Polen und Russen anerkannte (hier machte sich der Einfluss der marxistisch-zionistischen Poalei Zion und ihres Begründers Ber Borochow bemerkbar), zum anderen in Gestalt des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten in der (ungarischen) Räterepublik des Béla Kun. Die gleichen Ideen enthielt das von der ungarischen Delegation auf der Friedenskonferenz am 20. Februar 1920 vorgestellte Projekt, das darauf abzielte, das Trauma der unabwendbaren Teilung der Donaumonarchie zu mildern.

Die interessantesten Entwicklungen der Zwischenkriegszeit vollzogen sich in den baltischen Staaten. In der schwierigen Anfangsphase des jungen Staates Litauen durften sich die dort bereits lebenden kehilot auf der Grundlage des Gesetzes vom 21. Oktober 1920 nach dem Prinzip der personalen Autonomie selbst verwalten. Diese Regelung fand mit der Errichtung eines autoritären Regimes in Kaunas 1926 leider ein jähes Ende.[19]

Auf dieselben Prinzipien berief sich Anfang des Jahrhunderts auch der große baltendeutsche Essayist und Politiker Paul Schiemann. Wie József Eötvös und die Austromarxisten nahm auch er an, dass – so wie einst die religiöse Toleranz und die Trennung von Kirche und Staat die Konfessionen versöhnt hatten – nun die Trennung von Staat und Nation das Ende des Nationalismus besiegeln würde. Er schlug ein wohl durchdachtes Verwaltungssystem vor, das sich im Wesentlichen auf die oben beschriebenen Prinzipien[20]für die deutsche Gemeinde in Lettland stützte. Die als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte Gemeinde war aufgerufen, ihre kulturellen Interessen selbst wahrzunehmen. Leider verhinderten die innenpolitische Entwicklung und der internationale Kontext dieser baltischen Republik (die Politik der UdSSR und von Nazideutschland) eine Verwirklichung dieser Pläne.[21]

Der dritten baltischen Republik, Estland, kam das Verdienst zu, ein vollständiges System der kulturellen personalen Autonomie in die Praxis umgesetzt zu haben. Das Gesetz vom 12. Februar 1925 gestattete tatsächlich jeder Minderheit, die dies wünschte, sich auf lokaler Ebene zu organisieren und sich auf gesamtstaatlicher Ebene von einem zentralen Kulturrat der jeweiligen Nationalitäten vertreten zu lassen. Die Untergrenze lag bei 3 000 Mitgliedern, wodurch auch die Juden in den Genuss dieser Regelung kamen. Ein originelles Detail am Rande: In den Regionen, wo die Esten eine territoriale Minderheit darstellten, konnten auch sie sich nach dem gleichen Prinzip organisieren. Dr. Edwald Ammende, einer der Väter des estnischen Gesetzes, war auch einer der Initiatoren des europäischen Nationalitätenkongresses. Dieses System wurde erfolgreich auf die deutsche und die jüdische Minderheit angewandt. Hingegen gelang es der russischen Minderheit nie – trotz der Bemühungen eines anderen Mitinitiators, Professor Michail Anatoljewitsch Kurtschinski –, sich zu organisieren und von den Regelungen zu profitieren.[22]

Am Ende dieses historischen Überblicks über das facettenreiche Konzept der personalen Autonomie darf man sich fragen, warum die heutigen Politiker dieses Konzept aus den Augen verloren haben. Die Antwort ist einfach: Weil es seinen Ursprung in Mitteleuropa hat, wurde es nach dem Ersten Weltkrieg durch die Omnipräsenz des sowjetischen „Realsozialismus“ von der Bildfläche verdrängt. Im Westen, wo die Frage der nationalen Minderheiten unter die Rubrik „Menschenrechte“ subsumiert wurde, machte man sich nicht einmal die Mühe, in den Archiven nach den noch unerschlossenen Dokumenten zu forschen.[23]Doch die jüngsten Ereignisse – vom Kaukasus bis Bosnien – machen dieses Lösungsmodell für verstreute Minderheiten wieder höchst aktuell.

dt. Andrea Marenzeller

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