: Generation Kadett
Disco, Frankfurt und Verzweiflung: Thor Kunkels erster Roman beschreibt die heitere Hoffnungslosigkeit in Südhessen am Ende der 70er-Jahrevon VOLKER WEIDERMANN
Alptraum eines DJs: Rio befindet sich auf dem Grund einer schwarzen Schlucht. Keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist. Die schwarzen Wände sind weit geschwungene Kurven. Als er sie berührt, merkt er, dass sie aus Vinyl sind. Er ist in der Rille einer Schallplatte. Er ist winzig. Er ist ein Staubkorn. „Sieh an, die Welt ist doch eine Scheibe“, denkt er noch, da senkt sich auch schon der riesenhafte Tonarm auf die Platte, ohrenbetäubender Lärm erschüttert die Schlucht, der Tonarm kommt näher, das Staubkorn Rio flieht. Aber Rio ist DJ und er weiß: Am Schluss erwartet ihn eine Endlosrille. Es steht nicht gut um DJ Staubkorn. Wird er sterben? Oder ewig laufen müssen?
Nach dem Erwachen ist die Erleichterung nur kurz. Das Leben ist nicht viel besser als der Traum. Rio kommt aus Kamerun. Nicht aus dem Kamerun, an das Sie jetzt vielleicht denken. Kamerun – das ist der westlichste Ausläufer des Frankfurter Gallusviertels, ist ein vergessener Stadtteil, von Ortsfremden Asozialenviertel genannt, ein Getto. Wer hier jung ist, will nichts als raus. Die meisten bleiben. „Kommt selten vor, dass hier jemand die Fliege macht, es sei denn in einem Leichensack.“
So sitzt man denn im Kameruner Eiscafé „Eishaus“, wartet und schwadroniert. Von der großen Zukunft, die ja irgendwann beginnen muss. Und von der Flucht. Und vom Erfolg. Rio sitzt hier so ziemlich jeden Abend, zusammen mit seinen Kumpels. Mit Fußmann, einem weltfremden Chemielaboranten, der an der Befreiung der Menschheit durch eine neue Wunderdroge arbeitet. Mit Eddie, dem GI, Waffenhändler und verkannten Elvis-Nachfolger. Mit Sonny, einem muskulösen Winzling und sexbesessener Putzkraft in einem Bodybuildingcenter. Und mit Kuhlmann, kurz Kuhl, einer seelenlosen, amöbenhaften, eiskalten, aufs Großartigste desillusionierten Existenz, neunzehn Jahre, einst Fernsehtechniker, jetzt Parkwächter. Das Leben ist Warten, Hoffen auf den einen, den großen Deal, sich im Kreise drehen und Schwätzen vom Erfolg und von der großen Zukunft, die nie kommen wird. Glücklich, wem noch einer zuhört.
Der Plan der fünf, als heruntergekommene Strippergruppe, als „Superjocks“ den großen Durchbruch zu schaffen, scheitert kläglich. Der kurze Traum vom Startum endet als lächerliche Farce. Obwohl ihr Manager, der zwielichtige Herr Senfkorn, ihnen Hoffnung gemacht hatte, dass gerade ihre vollständige körperliche Stripunbegabung zum Erfolg versprechenden Programm werden könne: „Heutzutage kommen die Leute nur noch, wenn es krank ist, richtig degeneriert. Was anderes wollen die Leute nicht mehr seh’n . . .“ Die Superjocks sind wohl nicht krank genug.
Es ist das Frankfurt von 1979. Und der Ausweg aus der ganzen Scheiße heißt Vergessen, Sex und Drogen. Der Ausweg heißt: Disco! „Nur, was war Disco? Nach Untersuchungen von Carl Maults-By passte die gesamte Musik in das metronomische Taktmaß von 108 – 126 BPM. Ein plumper Viervierteltakt, eine Hand voll abgegriffener Bassmuster, perkussiv gespielte Klampfen, ein paar Blechbläser, und fertig war die ‚Yowsah!‘. Unterschwellig ging es natürlich um das Anheizen von Sex.“ Die Hymne, der Lebensmottosong von DJ Sonny und seinen vier Freunden ist „Born to be alive“ von Patrick Hernandez. „Wegen der Aussage“, wie Sonny betont. Schöner wird das nur in einem weiter vorne zitierten Kapitelmotto aus der „Edda“ beschrieben: „Besser ist, lebend als leblos zu sein. Wer lebt kriegt die Kuh.“
Wir geben zu, dass wir befangen sind. Dass wir einen Roman, in dem die Worte „Kusseng“ (d. i. südhessisch für Cousin), „eine Kiste Äppler“, „Opel-Kreisel“ und „Henninger-Pils“ vorkommen, niemals ganz schlecht finden könnten. Aber der erste Roman von Thor Kunkel ist noch über seine Leistung als großartiger Frankfurt-Roman hinaus („Du hättest nie nach Offenbach ziehen dürfen“, sagt Kuhl einem Kamerun-Abtrünnigen ins Gesicht, den er soeben erschossen hat), ein erstaunliches Buch. Es ist das erste Buch des 1963 in Frankfurt geborenen Thor Kunkel. Ein 640-Seiten-Roman, für dessen Anfang er beim letztjährigen Bachmann-Wettbewerb den zweiten Preis bekam, ein Riesenwerk, das nicht nur das Ende der 70er-Jahre in Musik, Politik und Lebensstil kartografiert, sondern auch das Ende einer Jugend, einer Generation, die gar nicht „Golf“ war, sondern eher so „Opel Kadett“, „Ford Capri“ vielleicht und nach einem guten Deal auch schon mal „Karmann Ghia“. Prollig, lustig, hoffnungslos.
Thor Kunkel: „Das Schwarzlicht-Terrarium“. Rowohlt Paperback 2000, 640 Seiten, 28 DM. Die Website zum Buch befindet sich unter: www.schwarzlicht-terra.com
Hinweis:Was war Disco? Ein plumper Viervierteltakt, eine Hand voll abgegriffener Bassmuster, ein paar Blechbläser, fertig war die „Yowsah!“
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