: Aller Klang ist Rhetorik
Von der Unmöglichkeit, „Musik“ zu sagen, ohne sich umzusehen: Das Festival Inventionen 2000 in den Sophiensälen und der Parochialkirche widmet sich dieses Jahr den unterschiedlichsten Verschleierungsmechanismen in der zeitgenössischen Musik
von BJÖRN GOTTSTEIN
Pythagoras pflegte seine Vorträge hinter geschlossenem Vorhang zu halten – akusmatisch. Seine Gestik und seine Mimik blieben unbeobachtet; aller Sinn war Wortsinn und Rhetorik. Die Musik der Neuzeit hat diesen Habitus neu entdeckt. Zunächst verdeckte Richard Wagner bloß den Orchestergraben. Die Bayreuther Musiker spielten, für das Publikum unsichtbar, hinter einer Blende. Der Klang waberte dabei geheimnisvoll aus dem tiefen, mystischen Urgrund heraus.
Aber im industriellen Zeitalter ließen sich die Spuren der Arbeit nie ganz verwischen. Es klebte jederzeit Schweiß an den opulent tönenden Orchestermassen. Erst mit den technischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts ließ sich der Ursprung eines Klanges endgültig verwischen. Das Zucken einer Lautsprechermembran ist wenig mehr als das Residuum des musizierenden Körpers. Mit der elektronischen Musik und der musique concrète hielt die postindustrielle Ästhetik in den Fünfzigern endlich Einzug in die Musik: Musik ohne Gestik und Mimik, aller Klang ist Musiksinn und Rhetorik.
Morgen beginnt das Festival Inventionen, das vom daad und der TU im Zweijahres-Turnus ausgetragen wird. Es widmet sich in diesem Jahr vor allem den Verschleierungsmechanismen in der zeitgenössischen Musik. Für drei akusmatische Konzerte wird „beast“, das renommierte Birmingham Electroacoustic Sound Theatre, die Parochialkirche mit Lautsprechertürmen zustellen. Werke von über dreißig Künstlern versprechen den kühlen ruinösen Raum in Klänge zu tauchen, die sich verhalten, sachlich und technoid geben, aber sich auch schön in die Gehörgänge des Publikums schmiegen.
Die herkömmlichen Methoden der Klangerzeugung überwinden auch sechs Klanginstallationen, die sich zwischen der Passage am Roten Rathaus und den Sophiensälen ausbreiten, darunter die kulinarische „Tafelmusik 2000“ von Christina Kubisch und die sich selbst reproduzierende „Composición infinita“ von José Antonio Orts. Verständlicherweise werden bei so viel körperloser Klangschwebe selbst die Künstler irgendwann zappelig. Einmal mehr zeigt auch das diesjährige Festival ein Gesetz des zeitgenössischen Musiklebens auf: eine Klanginstallation geht nie ohne eine Live-Performance.
Die quirlige Österreicherin Olga Neuwirth hingegen wird die akusmatischen Konzerte in der Parochialkirche mit Werken für die eher körperlichen Instrumente Theremin und Schlagzeug konterkarieren. Es gibt allerdings auch Versuche, die verschleierte und körperlose Installation mit der sichtbaren und körperlichen Performance zu verschmelzen. So gelang es dem kanadischen Komponisten Alvin Lucier, mit seinen Hirnströmen zu musizieren, indem er ein Schlagzeug von elektrisch verstärkten EEG-Wellen spielen ließ: der regungslose Körper des Ausführenden auf Wetware reduziert. Von der Uraufführung eines neuen Werkes Luciers am kommenden Freitag ist also durchaus ein essenzieller Beitrag zur Dialektik von Körper und Musik zu erwarten.
Schließlich entdeckt man es am Ende doch noch. Das eine traditionelle klassische Orchesterkonzert, mit echter Opusmusik, einem Solisten und einem Dirigenten: am Freitag spielt das Deutsche Symphonie-Orchester Werke von Wolfgang Rihm, Luigi Nono und Klaus Ospald.
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