: Ein „pragmatischer Europäer“
Heute wird Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac in Berlin erwartet. Er spricht Englisch und Russisch, aber kein Deutsch. Und er schätzt die französische Nation. Dennoch ist er ein Befürworter der deutschen Vereinigung und der europäischen Idee
aus Paris DOROTHEA HAHN
Nichts im Büro des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac im ersten Stock des Élysée-Palastes erinnert an Deutschland. An den mit Goldstuck verzierten Wänden hängen Gobelins. Auf den Simsen liegen afrikanische und asiatische Figuren und Masken. Auf dem Schreibtisch steht neben einem großen Schwarzweißfoto von Enkel Martin ein kleines Bild des politischen Lehrmeisters und Gründers der V. Republik, General de Gaulle.
Chirac arbeitet seit 1995 in diesem Büro. Er spricht fließend Englisch und passabel Russisch, aber kein Deutsch. Außer von seinen zahlreichen politischen Besuchen kennt er das Nachbarland nur aus einem zweimonatigen Aufenthalt als Unteroffizier Mitte der 50er-Jahre in Neustadt an der Weinstraße. In jener Zeit hatte er seine ersten persönlichen Begegnungen mit den früheren Feinden. Die Kontakte seien herzlich und einfach gewesen und hätten schunkelnderweise beim Weinfest stattgefunden, erinnert sich der 69-Jährige.
Die Zivilisationen seines Landes und Deutschlands erscheinen dem französischen Präsidenten als dieselben. Die Ursprünge für diese Nähe über den Rhein, über die Sprachbarrieren und über die heißen Kriege hinweg sieht er in der gemeinsamen keltischen Vergangenheit.
Jacques Chirac trat sowohl vor als auch nach 1989 für eine Abschaffung der deutschen Zweistaatlichkeit ein. Am Vortag des Falls der Berliner Mauer hielt der damalige Bürgermeister von Paris eine Rede, in der er sich für die „Wiedervereinigung“ Deutschlands aussprach. Damit setzte er sich nicht nur in Gegensatz zu dem Sozialisten Mitterrand, der bis zuletzt versuchte, die deutsche „Vereinigung“ zu verhindern, sondern fand vor allem harte Widersacher in seinem eigenen politischen Lager, wo der Satz von François Mauriac: „Ich liebe Deutschland so sehr, daß ich zwei davon behalten möchte“, viele Anhänger fand.
Heute sagt der französische Staatschef, er sei glücklich über die Wiedervereinigung. Das Resultat sei mehr Homogenität und eine international wichtigere Rolle, der logischerweise auch ein Sitz im Weltsicherheitsrat entspräche.
Voll des Lobes ist Jacques Chirac für Außenminister Joschka Fischer. Schon wenige Tage nach dessen europapolitischen Grundsatzvortrag habe er ihn dazu auf Schloß Rambouillet beglückwünscht. Die Rede sei der Trompetenstoß gewesen, den Europa gebraucht habe, um wach zu werden.
In vielen Details des Fischer-Plans ist Chirac freilich anderer Ansicht. Schon oft habe er den Deutschen geraten, das Wort föderal nicht zu benutzen. Frankreich debattiere leidenschaftlich und für Deutsche schwer nachvollziehbar über die Nation. Das Wort föderal würde in Frankreich grundsätzlich anders verstanden. Eine Föderation im französischen Sinne, die Vereinigten Staaten von Europa, hält er nicht für machbar. Keiner der sechs Staaten würde seine Identität aufgeben. Die Nationen werde Fischer nicht zum Verschwinden bringen, sagt er.
Jacques Chirac beschreibt die EU als Erfolgsgeschichte. Die Erweiterung nennt er eine logische Entwicklung in der globalisierten Welt, die auch den Gründervätern entspreche. Und ein Vorangehen einzelner EU-Mitglieder befürwortet er. Ebenso wie eine europäische Verfassung und eine Grundrechtecharta, die er freilich nicht als kurzfristiges Ziel sieht.
Der Neogaullist Chirac, der sich in der Beschreibung „pragmatischer Europäer“ wiederfindet und in dessen Vorzimmer neben dem konservativem Figaro auch die kommunistische Tageszeitung L'Humanité ausliegt, stellt fest, daß in Europa gegenwärtig ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehe.
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