piwik no script img

Wahn und Norm

Wilde Diskurse: Die Rampe 003, ihre Schreberzentrale und die hingemachten Männer

Na, heute schon Gymnastik gemacht? Wenigstens den Einkaufszettel für die Trennkost geschrieben? Nee, nur wieder mit schlechtem Gewissen im Bett auf die Fettpölsterchen der anderen Seite gedreht. Uschi Glas passiert das nicht. Ganz entspannt schaut sie vorbei in der „Schreberzentrale“ und gibt Ernährungstipps.

Man könnte ihre Rede wie Schaum auf den Wellen des Fernsehkanals vorüberziehen lassen, säße sie in der Volksbühne nicht Moritz Schreber gegenüber, der vor 150 Jahren mit Gymnastik gegen „Müßiggang“ und „Siechtum“ zu Felde zog.

Man muss seine Übungen, die an Holzhacken und Sägen erinnern, einmal von den Assistenten der „Schreberzentrale“ ausgeführt sehen, dann merkt man plötzlich: Das sind Bußübungen für Intellektuelle und Städter, weil sie nicht früh um fünfe raus und Kühe melken müssen. Doch das Vorturnen erinnert auch an das Body-Shaping in der Loveparade: Hauptsache fit und fröhlich, denken können wir, wenn wir tot sind. So schleicht sich in Körper und Text eine unheimliche Kontinuität zwischen zwei extremen Positionen ein.

Die Fun-Generation verachtet die urbane Kultur, und die Unternehmensphilosophie von „gesunde Arbeitskräfte bringen die höchsten Gewinne“ nähert sich dem bedächtigen Müslifetischisten. All dies ist Wahn und Norm zugleich. Das zeigt keine Geschichte so gut wie die von Vater und Sohn Schreber. Sie sind die Hauptpersonen der Textcollage „Schreberzentrale oder: Die flüchtig hingemachten Männer“, die aus Zitaten des Orthopäden Moritz Schreber (1808 – 1861) und des Juristen Paul Schreber (1842 –1911) montiert ist. Paul erreichte traurige Berühmtheit durch sein Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, in dem er die Erlebnisse und Leiden eines Paranoikers beschrieb. Freud entdeckte den Fall zuerst; spätere Generationen von Psychoanalytikern und Faschismuskritikern arbeiteten sich vor allem an den Parallelen der Gesundheitslehre des Vaters und den Krankheitssymptomen des Sohnes ab. Der Psychopath und der Normopath entsprachen sich im missionarischen Eifer und weltumspannenden Anspruch ihrer Systeme. Der Vater wollte den Volkskörper mit Gymnastik zur sozialen Gesundheit führen, der Sohn mit Strahlen die Seelen der Menschheit zur Neugeburt bringen.

Die Spiegelbildlichkeit ihrer Gedanken ist das Herzstück der Textfassung von Christine Umpfenbach und Antje Wennigmann. Moritz (Lars Studer) gerät bei seinem Vortrag über „Kallipädie, Erziehung zur Schönheit“ zusehends aus der Fassung und hangelt sich an der Gliederung wie an einer Rettungsleine weiter. Pauls absonderlicher Text, von Astrid Rashed distanziert vorgetragen, steigert sich von schüchternem Murmeln zu einem entschiedenen Bericht. Wie ihm das Rückenmark ausgepumpt wird. Wie er ohne Körper leben muss. Wie er über Strahlen in eine neue Phase der Kommunikation eintritt. Was einem heute gar nicht mehr so wahnsinnig vorkommt.

Die beiden jungen Bühnenbildnerinnen Umpfenbach und Wennigmann haben sich als C&A-Team zusammengeschlossen und zuletzt mit den Ratten 07 „Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf“ auf die Bühne gebracht. Sie entwickelten das verhaltene Lehrstück über die Kehrseiten der Selbstkontrolle als Beitrag zum „Projekt Schreber Jugend“.

Seit Mitte Mai haben da Künstler, Designer und Historiker einige Ideale der modernen Begriffe von Freiheit und Individuum auf ihren dialektischen Widerpart abgeklopft oder Wellnessbereiche und Fitnessgeräte auf ihr skulpturales Potenzial hin durchforstet. Je wilder der Diskurs in Kraut schießt, umso besser. KATRIN BETTINA MÜLLER

Fr – So, ab 21 Uhr, Volksbühne, 3. Stock.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen