: ...And The Beat Goes On
Kaum jemand merkte, wie es geschah. Acht junge Männer erstickten nachts im Gedränge des Festivals von Roskilde
aus RoskildeREINHARD WOLFF
Absurd, unwirklich. Die einen heulen, fassen sich verzweifelt an den Kopf. Neben Ihnen jubeln andere, schreien. Was los ist, merken die meisten im Publikum erst, nachdem alles vorbei ist: Acht Menschen sind von einer nach vorn drängenden Menschenwelle zu Tode getrampelt oder erdrückt worden, junge Männer zwischen 17 und 26 Jahren, drei Dänen, drei Schweden, ein Niederländer und ein 26jähriger Polizeiobermeister aus Hamburg. Erstickt auf der „orange scene“, vor der Hauptbühne des Rockfestivals von Roskilde.
Freitagabend, kurz nach 23.30 Uhr. Der Sänger Eddie Vedder der amerikanischen Gruppe „Pearl Jam“ bricht abrupt ab. In den Minuten zuvor war große Bewegung in die 50 000 Fans gekommen. Jetzt geht es darum, wieder Ruhe in die Menge zu bringen, eine Panik zu vermeiden. Eddie Vedder am Mikro: „Hört mal Leute, das, was wir jetzt alle zusammen in den nächsten fünf Minuten machen werden, hat nichts mit Musik zu tun. Ich bin euer Freund und ihr wollt mir nicht schaden und geht gleich alle einen Schritt zurück. Hier vorne sind noch mehr Freunde von euch, denen ihr auch nicht schaden wollt. Ich zähle jetzt bis drei, dann gehen alle einen Schritt zurück. Wer mitmacht, soll laut „yes“ rufen.“
Ein dröhnendes „Yes“ antwortet ihm. Die meisten machen, soweit im wogenden Gedränge möglich, den Schritt rückwärts, ohne zu wissen, warum. Einen Augenblick scheint es, als ob Ruhe und Sicherheit wieder einkehren würden. Eine Illusion. Die chaotischen Szenen unmittelbar vor der 1,20 m hohen Absperrung zur Bühne gehen weiter.
„Ihr macht drei Schritte zurück“
Es hat nahezu den ganzen Tag geregnet. Der Festivalplatz hat sich in eine Schlammwüste verwandelt. Roskilde ist auch in diesem dreißigsten Jahr das gewohnt ruhige und friedliche Musikfestival. Ebenfalls wie gewohnt mit fortgeschrittener Abendstunde allerdings auch immer mehr alkohol- und drogengeschwängert. Um so größer also die Gefahr, auszurutschen und hinzufallen.
Eddie Vedder wiederholt seine Aufforderung. Angesichts der plötzlich angeschalteten Beleuchtung haben die meisten langsam verstanden, dass etwas nicht stimmt. „Und jetzt Freunde, machen wir das Ganze nochmal. Ihr macht alle drei Schritte zurück.“ Wieder folgen viele seiner Aufforderung. Doch dass sie zu spät kommt, sieht die Band oben auf der Bühne jetzt. Mit einem „Well, fuck you, guys!“, tritt Eddie Vedder weinend zurück und geht zwischen seinen Bandmitgliedern verzweifelt auf die Knie.
Der 21-jährige Jens ist einer von denen, die in Gefahr waren, selbst zu Tode getrampelt zu werden: „Zuerst fiel ich hin, als alles nach vorne drängte, da lagen plötzlich schon zwei andere auf mir drauf. Doch ein kräftiger Sicherheitsmann half uns auf. Dann rutschte ich wieder aus, als plötzlich alle drei Schritte zurückgehen sollten. Unter mir lagen auch welche, aber ich konnte mich nicht rühren. Da bin ich dann nur wieder hochgekommen, weil mir ein Deutscher geholfen hat. Die, die ganz unten lagen, hatten keine Chance.“
Das seit 1971 stattfindende Festival von Roskilde galt als „sicheres“ Festival. Trotz regelmäßig bis zu 100.000 BesucherInnen war nie etwas Vergleichbares passiert. Man hat lange Erfahrung. Auch 36 Stunden nach der Katastrophe wird die Polizei nur „unglückliche Umstände“ als Grund für das Geschehene präsentieren. Ähnliche Publikumszahlen wie am Freitagabend hat es früher auch gegeben, genauso wie Matsch und Regen. Um es gar nicht erst zu gefährlichen Wellenbewegungen im Publikum kommen zu lassen, sind in regelmäßigen Abständen bogenförmige „Wellenbrecher“ aus Eisen im Boden verankert. Doch wenn das Gedränge zu groß wird, sind es anscheinend gerade diese Eisenbogen, die eine entlastende Bewegung zurück behindern. Max aus Deutschland ist nicht der einzige, der kritisiert, dass es viel zu lange dauerte, bis die Sicherheitskräfte den Ernst der Lage erkannten: „Wir brüllten ihnen zu, sie sollten etwas machen und wir signalisierten hoch zur Bühne, sie sollten die Musik abbrechen. Doch es dauerte sicher zehn Minuten, bis etwas geschah.“
Weiter mit der Musik!
Während vor der Bühne Festivalpersonal und Polizeibeamte Verletzte und leblose Körper über die Absperrung heben und in den PhotographInnengraben zerren, mehren sich aus dem Publikum die Rufe, endlich mit der Musik weiterzumachen. Auf dem Großbildschirm ist gerade zu erkennen, wie ein Körper über die Absperrung gehoben wird, als ein Sicherheitsmann sich das Mikrophon greift und den Ernst der Lage zu erklären versucht.
Was wirklich geschehen ist, geht den meisten erst auf, als kurz vor ein Uhr Festivalchef Leif Skov auf die Bühne steigt und um Ruhe bittet: „Viele von euch kommen seit Jahren. Dieses Jahr war das Gedränge zu groß. Ungefähr 20 Menschen sind zu Schaden gekommen, einige sind tot. Lasst uns einen Augenblick still sein, anschließend geht ruhig von hier weg und passt auf euch auf.“
Als er von der Bühne heruntersteigt, hat er bereits den Entschluss gefasst, den er dann am Samstagmittag auf einer Pressekonferenz offiziell verkündet: „Wir machen weiter. Wir können nicht einfach 100.000 Hals über Kopf nach Hause schicken. Da ist das Risiko noch größer, dass noch mehr passiert, als wenn wir jetzt weitermachen. Ich bin nicht sicher, ob unsere Entscheidung 110-prozentig moralisch richtig ist. Es ist kein mangelnder Respekt vor den Opfern. Aber das Leben geht weiter, es besteht nicht darin, stehenzubleiben.“
„Pearl Jam“ will nicht mehr weiterspielen. „Wir können die Qual nicht beschreiben, die wir empfinden, wenn wir an die Eltern oder Freunde derjenigen denken, die ihr kostbares Leben verloren haben . . .Unser Leben wird niemals wieder dasselbe sein“, verbreiten sie in einer Erklärung. Sie sagen auch Konzerte in Belgien und Holland ab. Oasis und die Pet Shop Boys stornieren ihre Roskilde-Auftritte. Es sei respektlos gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen, zu spielen. Nein, sagen die Veranstalter, es sei „respektlos gegenüber den Fans“, nicht zu spielen.
Auf den übrigen Bühnen geht die Musik weiter. Am Samstagabend auch wieder auf der „Orange“, der Todes-Scene. Youssou’n’Dour tritt auf. Er legt Blumen an der Unglücksstelle nieder, wie viele Festivalbesucher vor ihm. Dann beginnt er seinen Set. The beat goes on.
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