: Immer ein Hauch von Wahnsinn
Durch ein wirres Szenario aus komplizierten Beziehungsgeflechten getaumelt: der legendäre Tänzer Nijinsky, präsentiert von Hamburg Ballett ■ Von Marga Wolf
Es beginnt mit seinem letzten Auftritt. Wie paralysiert sitzt er auf einem Stuhl. Nijinsky, der Mensch, der angesichts des Ersten Weltkrieges nicht mehr tanzen will. Dann wirft er seinen weißen Mantel ab, hebt an zu kantig verdrehten Ges-ten, stampfenden Schritten. Nijinsky, der Choreograf, der seiner Zeit weit voraus war und sich bereits 1912 mit seinem Debut L'après-midi d'un faune gegen das Diktat von ätherischer Schönheit stellte. Schließlich gibt er der feinen Gesellschaft doch noch, was sie sehen will: Seine hohen Sprünge, die katzenhafte Sinnlichkeit, selbst zu ein paar albernen Späßen lässt Nijinsky sich hinreißen.
So ist sie dokumentiert, die letzte Vorstellung der Tanzlegende Vaslaw Nijinsky 1919 im Suvretta Haus in St. Moritz, bevor er die zweiten 30 Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung verbringt. John Neumeier nimmt sie als Aufhänger für seine neue Choreografie mit dem Hamburg Ballett, Nijinsky, die am Sonntag in der Staatsoper die 26. Hamburger Ballett-Tage einleitete. Seinem Idol hat der Choreograf dieses Ballett gewidmet. Ein gefährliches Unterfangen. Neumeier gibt unumwunden zu, dass er Nijinsky seit seinem elften Lebensjahr geradezu verfallen ist. Seitdem sammelt er, was die Literatur, die bildende Kunst und die Fotografie zu Nijinsky heraus gebracht haben. Diese größte Privatsammlung ist neben weiteren Exponaten bis zum 27. August in einer Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen.
Klug geht Neumeier choreografisch denn erstmal auf Distanz und macht seinem Ruf als Ballettdramaturg alle Ehre. In traumhaft assoziativer Verknüpfung lässt er Episoden und Bilder aus dem Leben Nijinskys Revue passieren. Jiri Bubenicek in der Titelrolle taumelt eher durch dieses Szenario aus Beziehungsgeflechten, zwischen Mutter und Geschwistern, im Dreiecksverhältnis zwischen seiner Frau Romolo und seinem Impresario, Entdecker und Liebhaber, Serge Diaghilew, durch die immer wieder die unvergesslichen Rollenkreationen Nijinskys geistern. Otto Bubenicek als Goldener Sklave aus Scheherazade und, im zweiten Teil, Lloyd Riggins als Petruschka vermitteln hier eine Ahnung von der Faszination, die der Ausnahmetänzer auf sein Publikum ausgeübt haben muss.
Zwar läuft der erste Teil ab wie hinter einer Glasscheibe betrachtet, stellt aber den Konflikt zwischen Künstler, Mensch und Publikumsliebling, in dem der Wahnsinn stets mitschwingt, plastisch heraus. Von der erotischen, animalischen, seinerzeit skandalträchtigen Kraft ist jedoch nichts zu spüren. Rimskij-Korsakws Scheherazade-Komposition und Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11, unter einfühlsamer Leitung von Rainer Mühlbach mit dem Philharmonischen Staatsorchester, dienen Neumeier als Folie zu den teils aus Fotografien heraus geschälten Motiven.
Im zweiten Teil löst sich Neumeier aus dem Korsett von Vorlagen, überzeugt in dynamischen Stimmungswechseln. Yukichi Hattori als der von Kindheit an geisteskranke Bruder hält Nijinsky eindringlich den Spiegel vor. Die Hochzeitsgesellschaft wird zu Soldaten im Krieg. Wild tanzt Eliza-beth Loscavio zwischen den sinkenden Körpern den Opfertanz aus Neumeiers eigener Le Sacre du Printemps-Choreografie. In bedrückender Stille zieht Romola (Anna Polikarpova) ihren kauernden Mann auf einem Schlitten, bis er am Schluss noch mal seine traumatische Verzweiflung ausdrückt. Die Frauen allerdings, selbst die Schwester und spätere Choreografin Bronislava Nijinska, führen bei Neumeier ein blasses, biederes Schattendasein.
weitere Vorstellungen: heute und 13. Juli, 19.30 Uhr, Staatsoper
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