: Fluch des lebensverlängernden Elixiers
Das Festival als Baustelle: Aix-en-Provence befindet sich im Umbruch, die Altstadt wird restauriert. Unfertiges auch beim „Festival international d’art lyrique“: Simon Rattle wagte sich im Freilufttheater an die „Sache Makropoulos“ – wurde aber offensichtlich nicht rechtzeitig mit den Proben fertig
von FRIEDER REININGHAUS
Nicht sehr festlich präsentierte sich der Stadtkern von Aix-en-Provence: Der Cours Mirabeau, die von Westen nach Osten führende Prachtstraße mit den riesigen Platanen, den berühmten Brunnen, Cafés und Restaurants, ist eine einzige Baustelle, und auch deren Fortsetzung, die Rue Opéra. Die Altstadt benötigte einen neuen großen Abwasserkanal. Und weil nun einmal schon so weit und tief aufgerissen wurde, soll dann der großen Corso edel geplättet und fürs Promenieren herausgeputzt werden.
Der feinere Betrieb der Neuen Musik in Frankreich schien sich in der Laune der Sommerfrische zu befinden. Pierre Boulez präsentierte ihm drei seiner Dirigier-Eleven und sein aus zwei früheren Kompositionen zusammenmontiertes Ensemblewerk „Eclat / Multiples“. In freundlich didaktischer Form wird den hemdsärmelig erschienenen Musikern der letzte Schliff verpasst und dem ebenso hemdsärmeligen Publikum Einblick in die Musikwerkstatt gegeben, mit welcher der aus Paris gekommene Direktor Stéphane Lissner das Festival aufs Neue attraktiv und besonders förderungswürdig gestalten will. Ungeniert wird das Unfertige vorgeführt, eben das Festival als Baustelle.
Ebenfalls nicht ganz fertig mit dem Probieren wurde offensichtlich Simon Rattle, der – wenig geübt im Opernfach – sich im Freilufttheater, im Hof des erzbischöflichen Palastes, mit seinen Stadtpfeifern aus Birmingham an Leoš Janáčeks „Sache Makropoulos“ wagte. Unüberhörbar waren zunächst die Koordinationsprobleme zwischen der Tätigkeit der Einsatzkräfte im tiefen Graben vor der Fassade der Archevêché, und dem, was seitwärts aus den Fenstern des Gemäuers geblasen wurde. Im Verlauf des Premierenabends ergab sich dann ein beschwingt fortlaufendes Musikband mit einigen markanten Zäsuren des demonstrativen Innehaltens; aber insgesamt blieb der Klang, gefiltert vom aufkommenden Mistral, ohne Tiefenschärfe, allzu Oberstimmen-fixiert. Auch die Kunst der Freiluftaufführungen will erlernt sein.
In Janáčeks Oper aus dem Jahr 1926, eines seiner gewichtigsten Werke, geht es um die Suche nach der Verlängerung der menschlichen Existenz – ein zeitloses Thema, das dank der Genforschungsdebatte derzeit neuen wissenschaftlichen Schwung erhält. Das tendenziell ewige, jedenfalls stark verlängerte Leben freilich erweist sich nicht nur als Glück und Segen. „Die Sache Makropoulos“ – das ist die von Karel Čapek entwickelte Lebensgeschichte der Tochter eines frühneuzeitlichen Alchemisten, der für den Ende des 16. Jahrhunderts in Prag residierenden Kaiser Rudolph II. ein lebensverlängerndes Elixier entwickeln und die Substanz an seiner Tochter Elina erproben sollte. Da der Kaiser jedoch keine kurzfristige Veränderung an dem Mädchen feststellen konnte, ließ er Makropoulos als Betrüger festnehmen und hinrichten; Elina aber floh. Sie wurde eine berühmte Sängerin – und alterte tatsächlich so gut wie gar nicht. Allerdings hielt sie es für geraten, gelegentlich mit einer Ortsveränderung auch einen Namenswechsel zu verbinden, auf dass man sie nicht verdächtigte, mit finsteren Mächten im Bund zu stehen. Unter den Namen Ekaterina Myschkin, Elsa Müller, Elian McGregor hatte die Griechin auch als Kunst-Russin, als Exil-Deutsche oder Leih-Schottin, und zuletzt als Diva Emilia Marty große Erfolge und Amouren. Sie mischt sich – und damit beginnt Čapeks Theaterstück wie Janáčeks Oper – in einen seit Menschengedenken am Obersten Gerichtshof von Prag anhängigen Erbschaftsstreit der Familien Gregor und Prus, deren durch die Jahrhunderte kreuzende Biografie durchmannigfache Lieb- und Mutterschaft verwickelt ist – und die noch lange weitergehen könnte, wenn sie nur das Rezept für das Medikament in die Hände bekäme, das beim Baron Prus in einer Schatulle liegt und dessen sie zur Auffrischung der Kur dringend bedarf.
Zuletzt war „Sache Makropoulos“ gleich zweimal frisch aufbereitet worden – musikalisch brillant geleitet von John Fiore und szenisch präzise gearbeitet in Düsseldorf und, fast zeitgleich, in einer symbolkräftig-drastischen Realisierung an der Kölner Oper. Gegenüber diesen Produktionen blieb die Festspielinszenierung von Aix eher blass; Stéphane Braunschweig suchte die leere breite Bühne, die nur am Anfang von einer durchscheinenden Aktenwand und am Ende von einem schrägen Laufsteg strukturiert wurde, durch die schauspielerische und stimmliche Präsenz von Anja Silja zu erfüllen. Noch immer ist die kühle Lässigkeit dieser Akteurin bemerkenswert und sticht die Schlagfertigkeit im musikalischen Konversationsstück hervor. Doch die Stimme, auf die es hier zunächst ankommt, kann die Diva nun nicht mehr beglaubigen. Aber vielleicht passt solche Fragilität und Erinnerung an menschliche Vergänglichkeit gar nicht so schlecht in das so charmant gealterte und an allen Ecken und Ende renovierungsbedürftige Aix-en-Provence.
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