: Entwicklung kritisch gesehen
betr.: „Konkurrenz um Kinderspiele“ (Kita-Gutschein), taz vom 5. 7. 00
Mit einem Gutschein-Vergabesystem für Kitas lässt sich besser die Kinderbetreuung eines nordischen Möbelhauses oder das Schließfachangebot eines Bahnhofes bereitstellen und bewirtschaften – und gehört auch besser dorthin –, als ein Kindergarten.
In einer sich immer komplexer und schneller entwickelnden Gesellschaft stellt sich an die Kitas als allgemein anerkannte Sozialisationsinstanz kindlicher, kindgerechter, zukunftfähiger, dauerhafter, nachhaltiger Förderung, ein umfassender Erziehungsauftrag mit zunehmenden qualitativen Anforderungen und immer höheren Erwartungen. Denen wird eine Aufbewahrungskita nicht nachkommen können.
Als Sozialpädagoge in einem anerkannten Wohlfahrtsverband, als Betriebsrat und als Lehrbeauftragter in einer Fachhochschule für Sozialwesen sehe ich eine solche Entwicklung kritisch, da sich strukturelle, organisatorische Notwendigkeiten in einer so zu führenden Einrichtung ergeben, die auch nicht im Interesse der sozialen Arbeit, des Trägerverbandes, der MitarbeiterInnen für die zukünftige Gestaltung einer qualifizierten Dienstleistung und eines angemessenen Arbeitsverhältnisses und Arbeitsplatzes sein kann. In der zunehmend schrägen Diskussion einer modernen, sozialdemokratisch definierten „zivilen“ Dienstleistungsgesellschaft, ihrer Zersplitterung in „produktive“ und „nonproduktive“, „gute“ und „weniger gute“ Dienstleistungsbereiche, Eigenverantwortlichkeit und -vorsorge, kann auch nicht einfach vergessen werden, dass MitarbeiterInnen in Kitas immer noch die gleichen gerechtfertigten Ansprüche auf einen geregelten Arbeitsplatz, geregelte Arbeitszeiten, geregeltes Einkommen, Qualifizierung, Urlaub haben müssen, wie andere Berufstätige.
Einer ausschließlich haushalts-, steuer-, und finanzpolitisch bedingten Entqualifizierung und Zerschlagung sozialer Sicherungs- und Entwicklungssysteme ist entgegenzuwirken. Gleichzeitig sind die politisch Verantwortlichen aufzufordern, Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, dass die gesellschaftlichen Gruppen, die insgesamt wirtschaftlich und finanziell immer leistungsfähiger werden, ihren Leistungsverpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen, von dem sie laufend profitieren, auch tatsächlich nachkommen, bzw. sich insbesondere ihren steuerlichen Pflichten nicht weiter entziehen können (Stichwort Leistungs- ./. Verteilungsgerechtigkeit). Drohungen einer Arbeitgeberschaft, den Standort Deutschland aufgeben zu wollen, ist entgegenzutreten und aufzufordern, im Fall der Fälle den aufgegebenen Standort aufgeräumt, sauber und ohne Zurücklassung von Altlasten zu verlassen, selbst und mit der Familie auszuwandern. Dann besteht auch keine Notwendigkeit mehr für die allgemeine Bereitstellung von Kindergarten-, Schul-, Ausbildungs- und Studienplätzen und den damit verbundenen Kosten.
HANS-JOACHIM REICH , Braunschweig
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen