: Lebensgefühl Westalgie
Ach, wie schön war’s ehedem im Mauerstädtchen West-Berlin: Jeder sprach mit jedem, das Militär war außen vor und die Stadt ein einziges Paradies der Gutwilligen. Heute ist alles so kalt und öd und schlimm. Nicht wahr?
von PATRICIA MORAND
Wir Wessis sind die großen Verlierer der Wiedervereinigung. Punkt, Schluss. Der Pakistaner, der seit dreißig Jahren in den Kneipen seine Kopf- und Halstücher anbietet, wurde früher von allen und jedem angesprochen – das sollten die Neuberliner wissen. Wie läuft das Geschäft? Fährst du ab und zu nach Pakistan? Hast du dort Familie? Hört mal! Er hat vier Kinder, hey! Berühmt war der schielende Rosenverkäufer aus Bangladesch: „Der Kleine hat sechzehn Geschwister, wisst ihr das? Hello!“ Das war einmal so.
Man sprach auch gerne mit Heroinopfern, man kümmerte sich um jeden. Heute schaut man weg, wenn ein Motz-Mensch versucht, seine Ware abzusetzen. In der Zeit wusste niemand, wo das Kosovo liegt, Jugoslawien war ein Betonblock und Joschka Fischer Flowerpower. Am Ende herrschte in Berlin Walter Momper! Er war Idealist, unsicher, ungeschickt. Unvollkommen. Einfach perfekt für diese Stadt! Was kam danach? Ein Gewinner.
Alles wird so materialistisch und kühl. Als wir nach Berlin einzogen, hatten wir Wunschbilder: eine unbewaffnete Welt und eine gesunde Natur. Wie viele junge Männer kamen hierher, nur um den Militärdienst zu vermeiden? Fast alle!
Jetzt kommen Ostler und Westler aus ganz Europa für Karriere und Geld. Sie ackern wild und gesetzlos. Kennt ihr diesen jungen Mann, der es mit 25 Jahren geschafft hat, das Monopol bei der Benzol-Herstellung im Osten zu haben? „Ohne mein Produkt kann kein Chemiekonzern arbeiten“, prahlt er, am liebsten im Restaurant Zwölf Apostel am Savignyplatz.
Gerade dort war früher das vergammelte Café Jahrmarkt, und das war ein echter Jahrmarkt, wie alle Szenecafés in Berlin. Jetzt schwärmen alle für Prenzlauer Berg, aber in welchem Etablissement der Kollwitzschickeria darf noch ein Lebenskünstler seine Show vorkrähen? Und wo kann man in aller Ruhe eine drehen?
Ehrlich gesagt, die Wende im Westen fing schon vor dem Mauerfall an. Echt furchtbar wurde es um 1985. Auf einmal wurden Schöneberg und Charlottenburg elitär. Schlimm war die Woche, als das „Rosalinda“ und kurz danach das „Restaurant Schell“ alle Tische mit weißen Tüchern bedeckten. Schriftsteller und Künstler, die sich dort echt wohl fühlten, mussten fliehen: Auf feine, edle Baumwolle kann man keine Gedichte, keine Zeichnungen schmieren! Trotzdem klagte niemand. Die reichen Achtundsechziger blieben, sie saßen endlich mal unter sich. Die für diese Welt Unnutzbaren fanden dagegen in der „Dicken Wirtin“ und im „Zwiebelfisch“ einen Platz.
Dieser neue Snobismus, muss man gestehen, war ein Vorzeichen der Krise. Reichere Reiche, ärmere Arme und Konkurrenz. Die Vermehrung der Gaststätten war bloß eine Alternative der steigenden Arbeitslosigkeit, eine Vorstufe der Projektwellen unserer Zeit. Bis 1980 kannte man nur normale, übliche Projekte: eine Familie oder eine Firma gründen, einen guten Beruf erwischen, die Revolution anstiften, die Mauer abschaffen.
Danach wurde plötzlich alles zum Projekt: Kinder zum Park bringen, Ökopflanzen anbauen, Drogensüchtige und Asoziale zum Computerwahn bringen, Alte und Asylanten pflegen, Mülltrennung verfeinern, Gefangene mit Puppenspielen unterhalten, im Jugendzentrum Geschirr spülen, Unbeschäftigte mit Kreativität beschäftigen. Jetzt sind dazu die Ostler eine unendliche Projektquelle geworden. Improvisierte Erziehungsgruppen dürfen sie beraten, umschulen, motivieren, interaktivieren ...
Trotz der diskreten Krisen war vor der Ost-Wende das Wesentliche einigermaßen in Ordnung. Jobs fehlten kaum, und falls doch, wurde man easy als ABMler eingeführt. Niemand fragte dich um die Umstände deiner Dekadenz. Aus Bonn floss genug Geld. Miete, Lebensmittel und Transport waren bezahlbar, die Wohnungseigentümer hatten noch Angst vor ihren Mietern, die Arbeitgeber vor ihren Angestellten, die Hersteller vor ihren Verbrauchern, die Polizisten vor ihren Kindern, die Lehrer vor ihren Schülern, die Männer vor ihren Frauen.
Der Kleine war König. War das eine großartige Zeit, als man eine richtige Arbeit hatte und trotzdem rebellieren durfte! Als Bolle in Kreuzberg stundenlang brannte! Als keine Demo mit Reihen von führenden Politikern und Behördenvertetern vorstellbar war, wie es am 8. November 1991 von 400.000 Bürgern toleriert wurde! Die heutigen Demos bewegen sich vorsichtig im Rahmen des Antifaschismus. Gegen ungerechte Unternehmer und Profiteure traute sich nur noch die PDS, bevor sie sich für den Pazifismus so heftig engagierte. Jetzt nehmen die Jugendlichen höchstens einen Tag lang am Cyberboykott eines frechen, teuren Providers im Internet teil. Spielerei.
Wenn du heutzutage rebellierst, nutzt es ein Ossi sofort aus und setzt sich an deinen Arbeitsplatz. Wenn per Zufall ein Ossi aussteigt, springt ein Pole oder ein Bulgare auf seinen Kuchen. Wenn Polen klagen sollten, hätten sie unmittelbar die Bestrafung der Baseballschläger der Skinheads auf der Nase. Sollten auch diese wütend werden, wären die Ordnungskräfte auf ihrer Seite.
Bullen sind nunmehr überall zu sehen, und man fragt sich, warum. Die Bürger der ehemaligen DDR meinten nach der Maueröffnung, als sie in der U-Bahn die unzähligen blau uniformierten Beamten erblickten, Westdeutschland – bitte schön – sei doch wohl auch ein Polizeistaat. Schwer ist es, sie zu überzeugen, dass es vorher keinen einzigen gab. Dealer und Penner hatten ihre Ruhe, und harte, bösartige Kriminalität gab es trotzdem viel weniger als heute. So viele Vagabunden und Ausgeschlossene saßen am Bahnhof Zoo und um die Gedächtniskirche auch wieder nicht.
Der Fluss der Bürger aus dem Ostblock hätte etwas Erfrischendes, Unerhörtes, Stimulierendes bringen können. Die Verräter unterwarfen sich aber dem Kohl und der Kohle. Glücklicherweise wurde die Metropolisierung Berlins auch für eine Unmenge von Afrikanern und Südamerikanern zur Chance. Diese Jungs bringen Schwung. Westalgiker lieben den Karneval der Kulturen, das passt zu ihrer Weltanschauung. Die Love Parade erscheint dagegen als Yuppiephänomen. Einmal im Jahr Ecstasy und dann wieder in die Schule oder ins Büro, pünktlich. Clean, gehorsam, unbedeutend, integriert. Diese Anpassung wirkt besonders erschreckend, wenn Cleanies völlig pflichtbewusst Zigarettenwerbung in den Cafés durchführen. Entsetzlich. Früher hätte man alle Muster in irgendeiner Kneipe verteilt und danach das Leben genossen. Jetzt lassen die braven Jobber von den Gästen stundenlang ihre Fragebögen ausfüllen, und das Unglaubliche dabei ist der Fleiß der jungen Befragten, die ebenso sorgfältig mit dem absurden Verfahren mitmachen.
Es war mal alles liebevoll. Als Kapitalist wurde man geschätzt, bewundert. Immer wieder erschienen Flüchtlinge oder Rentner aus dem Osten und suchten eifrig Kontakt. Das waren wilde Emotionen. Umgekehrt, als man drüben die Sozialisten besuchte, war jede Begegnung ein wirkliches Ereignis. Jetzt ist Agressivität die Regel: „Du kleiner Wessi mit deiner Laberei.“
Schon lange ist die „Hoffnung Ost“ der SEW-Anhänger und sonstigen Radikalen nur noch eine blasse Erinnerung. In der PDS schleppen sich Westgenossen mühsam fort. Sie wurden aufgenommen – war das eine Ehre! Sie durften in einer echten kommunistischen Partei kämpfen. Schnell kam die Enttäuschung. Die lockere Stimmung der SEW mussten sie sofort vergessen. Alles ist so ernst und so hierarchisiert. „Lustig“, „witzig“, „pfiffig“ sind verbannte Worte.
Was bleibt?, würde Christa Wolf fragen. Bleibt Christa Wolf! Eben. Rührende Zeit, als Raubdrucke von „Kassandra“ millionenfach illegal in der Szene geschmuggelt wurden! Damals wollte man es noch den Brüdern und Schwestern aus dem Osten gleichtun. Ein Raubdruck, das war doch schon fast ein Samisdat. Also Rückkehrbewegung! Aus Prenzlauer Berg kommen schon die links orientierten Westalgiker nach zwei, drei Jahren aus der Emigration zurück. Der Kiez der verlorenen Söhne ist jetzt Kreuzberg 61.
Die reichen Achtundsechziger wollten dagegen über den Osten schon vom Anfang an nichts wissen. Sie blieben stur in Charlottenburg. Im Café Lenz sitzen gemütlich Architekten, Juristen, Ärzte. Gestresst sind sie nicht mehr, die Kunden werden weniger. Die Uniprofessoren zittern um ihre Stellen. Regisseure und Schauspieler trinken mehr als je zuvor. Handwerker und Künstler müssen sich deutlich mehr bemühen, um zu ihrem Geld zu kommen. Es war einmal im Westen eine schöne, bunte Mauer.
PATRICIA MORAND, Exilfranzösin, lebt als freie Autorin in Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen