Ein gläsernes Meer mit Feuer

Von der Kapitalismuskritik zum Selbsterfahrungstrip und von der kleinen Revolution zur ungebrochenen Führerfigur: Das Genre des Katastrophenfilms ist zum reinen Erlebnispark geworden. In „Der Sturm“ macht Wolfgang Petersen eine Handvoll Schwertfischer zu den letzten amerikanischen Helden

von ANKE LEWEKE

Eine Mega-Hyper-Super-Welle, die die Welt noch nicht gesehen hat, ein Sturm, der uns wie die Wind gewordene Hölle um die Ohren saust – und das Kino ein ewig unermüdlicher Marktschreier. Lauthals verkündet es immer neue Sensationen und Special Effects, die die bisherigen selbstredend über den Haufen werfen, protzt mit noch realistischeren Darstellungen. Das konsequent durchdigitalisierte disaster movie der Neunzigerjahre ist nur noch in Sachen Schauwert unterwegs.

Eigentlich hat ein französischer Filmkritiker den ultimativen Katastrophenfilm schon vor zwanzig Jahren auf den Punkt gebracht: Eine Boeing rammt ein Hochhaus, setzt es in Brand und kippt es auf ein Schiff, das eine durch Erdbeben ausgelöste Flutwelle zum Kentern gebracht hat.

In den Neunzigern wird das Schiff vielleicht noch von einem Tornado aufgesogen, der die letzten Überlebenden über einem brodelnden Vulkanausbruch ausspuckt. Mit hochgetunten Hindernisläufen ist das Genre zum Erlebnispark geworden, in seiner Struktur den Video- und Computerspielen verwandt.

Nächste Ebene, nächste Erfahrung, vom Lavastrom zum Ascheregen, vom Tornado zum Doppel-Tornado.

Jedem Zeitgeist seine Katastrophe

Für den Helden ist der Parcours meistens willkommene Flucht aus dem automatisierten Alltag. Die Katastrophe bricht nicht mehr sintflutartig über ihn herein, sie wird gesucht. In „Backdraft“ muss der Feuerwehrman fast verbrutzeln, um das Feuer zu verstehen, in Jan de Bonts „Twister“ gibt sich eine Forschercrew als hoch technisierte Großwildjäger, die dem luftigen Riesenrüssel hinterherrasen. Und in Wolfgang Petersens „Der Sturm“ kann George Clooney endlich sein in „Emergency Room“ bereits angelegtes, aber von biederen Oberärzten gebremstes Draufgängertum ausleben.

Hemmungslos stilisiert Petersen den schönen Fischer (wunderbar sitzende Seemannspullover) und seine Mannen zu den letzten romantischen Abenteurern. Breitbeinig und betont lässig schlendern die stoppelbärtigen Kerle über den Pier zum Schiff, in die Herausforderung des unberechenbaren Ozeans vor Neuengland, und eigentlich könnten sie genauso gut in die Weite des Westens oder des Weltalls ziehen.

Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt? (Die Offenbarung des Johannes 15,2).

Clooney alias Käpt’n Billy Tyne will die Welle spüren. Der neuere Katastrophenfilm ist ein Selbsterfahrungstrip, eine Suche nach den verloren gegangenen authentischen Sinneserfahrungen – damit ist er Reality TV, den vor ein paar Jahren in Mode gekommenen Extremsportarten und der dazugehörigen Literatur verwandt (nicht nur in den USA erklettern Erlebnisberichte wie Jon Krakauers Mount-Everest-Drama „In eisige Höhen“ oder Sebastian Jungers Buch-vor-dem-Film „Der perfekte Sturm“ regelmäßig die Bestsellerlisten). Ohnehin war es schon immer Aufgabe des Genres, für jeden Zeitgeist die adäquate Katastrophe zu finden. In den Anfängen bedeutete dies, das technische Zeitalter, dem das Kino selbst entstammte, als Bedrohung wahrzunehmen. Manchmal umwerfend einfach. In „How it feels to be run over“, einem kurzen Filmchen um 1900, saust ein Auto auf die Kamera zu und fährt sie zu Schrott. Die Filmwissenschaft interpretierte die so genannten train-wreck movies gar als Orientierungshilfe für ein Publikum, das sich plötzlich der mechanischen Rasanz des urbanen Lebens ausgesetzt sah. In den rigiden Dreißigern und Vierzigern ging es dann eher um die Sublimierung des Desasters mit dem Zweck der Läuterung des Protagonisten – jedem moralischen Fehltritt folgte prompt die strafende Naturkatastrophe.

So muss die illegitime Liebe zwischen einem Samoa-Häuptling und der Tochter eines Gouverneurs in John Fords „Hurricane“ angesichts des Sturms erst ihre Aufrichtigkeit beweisen. In der Blütezeit des Genres, den Siebzigern, war dann wieder die Technik dran. Mit Masseneinschließungsszenarien („Airport“, „Earthquake“, „Flammendes Inferno“) wurde die Hybris der Moderne bestraft, und die Katastrophe machte ihrer etymologischen Bedeutung alle Ehre (griechisch „kata“ = herab, herunter). In ihrer ziemlich durchsichtigen Ideologie- und Kapitalismuskritik haben die 70er-Katastrophenfilme etwas durchaus Sympathisches. Stets sind skrupellose Architekten am Werk, die an Baumaterial und Erdbebensicherheit gespart oder die Feuerschutzvorrichtung für 137 Stockwerke vermasselt haben.

Eigentlich liefert auch Sebastian Jungers Reportagenbuch „Der perfekte Sturm“ solche kritischen Ansatzpunkte, indem er das Schiffsunglück im Zusammenhang mit einer im Akkord arbeitenden Schwertfischfang-Industrie beschreibt. Unterhaltszahlungen, die Sehnsucht nach dem Aufbau einer neuen Existenz oder auch Schulden treiben die Männer gegen den Rat der Wettervorhersage und den eigenen Instinkt immer weiter auf See hinaus.

Im Film wird dagegen der Mythos vom Fischer, der im ewigen Kampf mit dem Meer steht, heraufbeschworen. So beginnt die Ausfahrt mit einer pathetischen Anglerlyrik von George Clooney, der vom Frühnebel, den kreischenden Möwen und dem bevorstehenden Abenteuer schwärmt ( „Was gibt es Besseres, als Schwertfischer zu sein?“). Der Alltag auf dem Skipper „Andrea Gail“ ähnelt denn auch mehr einem Sportfischerausflug als harter Maloche.

In den Siebzigern hatte die Katastrophe zumindest vorübergehende interessante anarchische Effekte. Outlaws konnten zu respektierten Anführern werden, spießige Normalbürger über sich hinauswachsen. Vermeintliche Experten wurden entthront, zynische Autoritäten entmachtet, und immer starben die Bösen (die Dicken leider meistens auch). Als Revolution von oben erzeugt die Katastrophe hier neue Gesellschaften und Machtverhältnisse. In den Neunzigern regrediert sie wieder passend zum Zeitgeist ins Privatistische, darf nur noch neue Lieben stiften und zerrüttete Forscherehen kitten.

Desaster und anarchische Helden

Petersens Wellenkämpfe wiederum entsprechen ganz der amerikanischen Mainstream-Tendenz zu ungebrochenen Leitfiguren (siehe auch den Stars-and-Stripes-schwenkenden Mel Gibson in „Der Patriot“, oder Matthew McConaugheys Kapitänswerdung in „U-571“). Selbst als klar wird, dass der ehrgeizige Käpt’n seine Mannschaft rücksichtslos in den Jahrhundertsturm geführt hat, wird seine Autorität nicht angezweifelt. Noch eine Sekunde vor dem Untergang bedankt sich ein Crewmitglied für das tolle Abenteuer, in das er sie geführt hat. Der Rest ertrinkt gottesergeben in der volllaufenden Kajüte.

Den Suspense bringt auch bei Petersen das ureigene Mittel des Katastrophenfilms, die Parallelmontage. Während die „Andrea Gail“ noch friedlich dahintuckert, wird kaum hundert Seemeilen weiter ein Segeltörn zum Albtraum. Und der Computer des Wetterdienstes rechnet schon die ganze schreckliche Wahrheit über den perfekten Sturm zusammen. Ansonsten springt der Schnitt zwischen dem Boot und den angespannten bzw. tränenverhangenen Gesichtern der Fischersfrauen hin und her. Nichts gegen Gefühle, aber ihre Affinität zu Kitsch und übertriebene Menschelei hat der Katastrophe der Neunzigerjahre einiges von ihrer existenziellen Wucht genommen.

Streng genommen hatte sie nur in „Earthqake“ (1974) ein ebenbürtiges Gegenüber. Da springt die Handlung immer wieder zu Walter Matthau, der sternhagelvoll in einer Kneipe sitzt, sich weiter zusäuft, vom eigentlichen Erdbeben gar nichts mitbekommt und am Ende verwundert durch die Trümmer torkelt: „Hey Kinder, was war denn eigentlich los?“

„Der Sturm“. Regie: WolfgangPetersen. Mit George Clooney, MarkWahlberg u. a. USA 2000, 124 Min.